Schon das Thema machte aus Michael Winterbottoms Film In this world von Anfang an einen Anwärter auf den Goldenen Bären. Zwei afghanische Flüchtlinge auf dem beschwerlichen Weg von Pakistan nach London - man weiß, diese Geschichte ist aktuell in dem Sinne, dass sie zur Zeit sozusagen täglich »auf dieser Welt« passiert. Man weiß auch, dass der Weg nach Europa für afghanische und andere Flüchtlinge ein beschwerlicher ist; ein Passionsweg, auf dem an jeder Ecke legale und selbsternannte Autoritäten von denen Tribut fordern, die eh nichts mehr haben außer dem, was sie auf der Haut tragen. Mit anderen Worten: wer Zeitung liest, kennt die Geschichte von In this world. Viel mehr als das kolportierte Flüchtlingsleid zu zeigen, war wohl kaum Winterbottoms Absicht. Für die Motive seiner Figuren interessiert er sich nicht, beziehungsweise setzt auch sie als bekannt voraus. Mit Laiendarstellern hat er an Originalschauplätzen nachgestellt, was zwei Flüchtlingen in den Händen der Menschenschmuggler so alles passieren kann, bis hin zum Erstickungstod im Schiffscontainer. Die Bilder sind betont rau und flüchtig, vertraute Indikatoren für »Authentizität«. Das Verfahren nennt sich »halbdokumentarisch« und bewahrt gleichzeitig vor Sentimentalitäten aller Art. Gegen einen solch gut gemeinten Film gibt es nur wenig Argumente; wenn man ihn auszeichnet, befindet man sich dagegen garantiert auf der richtigen Seite.
In jeder Hinsicht das Gegenstück zu In this world, besonders auch was die öffentliche Aufmerksamkeit anbelangt, bildete der slowenische Wettbewerbsbeitrag Rezervni deli/ Ersatzteile. Regisseur Damjan Kozole stellt die Höllenhunde jeder Flüchtlingsgeschichte, nämlich die Schlepper in den Mittelpunkt. Mit zum Teil allzu vertrauten Genre-Elementen - die schmutzige Realität ist in schmutzigen Farben fotografiert - zeigt er das Menschenschmuggeln als Dienstleistung mit eigenem Ehrenkodex. Es sei schlichtweg unprofessionell, die Flüchtlinge an der falschen Stelle abzusetzen, weist der alte Schlepper seinen Lehrling zurecht, auch wenn das für deren Leben sehr viel weniger riskant sei, weil ihnen »nur« die Abschiebung in die Heimat drohe und nicht der nächtliche Tod an der Grenze. Man kann kaum Sympathie empfinden für die verlorenen Männergestalten in Ersatzteile, die ihren mühsamen Broterwerb aus dem Elend Anderer bestreiten, aber der Film vermittelt wenigstens so viel: ohne sie wäre die Not der Flüchtlinge nicht geringer.
So waren es immer wieder grundlegende existenzielle Fragen, die die Filme des Wettbewerbs in diesem Jahr aufwarfen. Die Frage nach dem richtigen und dem falschen Leben beschäftigt Edward Norton als Monty in den letzten 24 Stunden, die ihm vor dem Antritt einer Haftstrafe noch bleiben (25th hour von Spike Lee); ob es einen anderen Ausweg aus dem falschen Leben als den Selbstmord gibt, erforschen drei Frauen zu unterschiedlichen Zeiten in The hours von Stephen Daldry; in Wolfgang Beckers Good-bye Lenin versucht ein Sohn für seine Mutter die Illusion eines »falschen« Lebens aufrecht zu erhalten, damit diese überhaupt am Leben bleibt; und in Steven Soderberghs Solaris schließlich generiert der geheimnisvolle Planet eine zweite Chance zum richtigen Leben, nur eben leider als Kopie. Wer sich damit abfindet, kann wenigstens kurzfristig ein Stück Glück nachholen, so wie George Clooney als Kevin an der Replikantin seiner verstorbenen Frau wieder gut zu machen versucht, was er einst versäumte.
Nicht tragisch, sondern verspielt behandelten zwei französische Wettbewerbsbeiträge die ewige Frage: Mit La fleur du mal zeichnete Claude Chabrol ein weiteres Mal die virtuose Verlogenheit der Bourgeoisie als launiges Sich-Einrichten im falschen Leben. Weniger virtuos, dafür mit dem Charme derer, die nicht erwachsen werden wollen, versucht die versprengte Linke in Pascal Bonitzers Petites Coupures nach dem Fall der Mauer zurecht zu kommen.
Auf irritierende Weise physisch ging dagegen Patrice Chéreau in seinem Film Son frère vor und wurde dafür mit dem Silbernen Bären für die beste Regie belohnt. Der ältere bestellt seinen jüngeren Bruder an sein Krankenbett und bittet darum, ihn zu pflegen. Der Jüngere ist zunächst unwillig, kann sich der Geschwisterbande aber nicht entziehen. Einerseits bedient Chéreau in seinem Film das Genre; es finden Aussprachen statt, die die Brüder einander nach jahrelanger Entfremdung wieder näher bringen. Andererseits legt der Regisseur mit vielen Nahaufnahmen von nackter Haut und bloßen Narben eine fast obszöne Lust an der Hinfälligkeit und Zerbrechlichkeit von Körpern an den Tag, die den Fokus der Geschichte weg von den Brüdern lenkt.
Ins Machtpolitische gewendet verhandelte die existenzielle Frage nach dem richtigen und dem falschen Leben schließlich der chinesische Beitrag Hero von Zhang Yimou. Der Action-Held vieler Hong-Kong-Filme, Jet Li, spielt den Rebellen, der als Attentäter hingerichtet, aber als Held begraben wird, als eine Art letztes Blutopfer, bevor der Frieden einziehen kann. Kunstfertig und theatral, sind in Zhang Yimous erstem »Action«-Film die »martial arts« nicht mehr Kampfsportarten, sondern eine Kalligraphie mit Körpern. In wunderschönen Bildern wiederholt der Film auf der formalen Ebene die Aussage der Legende, die er erzählt: Erst wenn die Gewalttaten zu bloßer Schrift werden, ist dem Frieden der Weg bereitet.
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