Das ungewisse Ende

Schule der Empfindsamkeit Was Sport und Kino gemeinsam haben und warum das eine doch nie ganz im anderen aufgehen kann

Sport, das belegen die Massen, die in diesen Tagen die öffentlichen und privaten Bildschirme umlagern, ist viel spannender als Kino. Kein Wunder, denn schließlich kann man nie sicher sagen, wie es ausgeht: das Fußballspiel, aber auch das Auto-Rennen oder das Tennis-Match. Während weltweit die Kinobesucherzahlen zurückgehen, verzeichnen Sportübertragungen, allen voran die des Fußballs, von Mal zu Mal höhere Einschaltquoten und das weltweit. In einer medienfixierten globalisierten Gesellschaft, in der die Ereignisse immer ausgeklügelter inszeniert werden, erscheint der Sport als letztes Reservat des Unvorhersehbaren. Beim Sport mitzufiebern ist deshalb stets mit einem gewissen emotionalen Risiko behaftet: Nicht immer wird man mit den Hochgefühlen des Siegens belohnt, oft genug muss man den Einsatz der Empfindungen im wahrsten Sinne des Wortes verschmerzen.

Im Kino dagegen weiß man meist ziemlich genau, worauf man sich einlässt. Selbst wenn am Ende manches Drehbuch Kapriolen schlägt, um den Zuschauer zu verblüffen, ist man vor wirklich unliebsamen Überraschungen schon durch das Gewinn-Interesse der Produzenten gefeit. Ganz besonders ist das der Fall, wo Sport und Kino zusammenkommen: Diese Filme handeln fast ausschließlich vom Sieg der Richtigen. Womit auch schon das inhärente Problem des Genres beschrieben wäre: "Einen Sportfilm anzusehen, der Das Wunder heißt, ohne das Ende vorhersagen zu können, ist ungefähr so, wie darüber zu rätseln, ob das Boot am Ende von Titanic auch wirklich untergeht", schrieb ein amerikanischer Kritiker, als der Film Miracle in den USA herauskam, in dem der legendäre Eishockeysieg der US-Amerikaner gegen die Sowjets 1980 während der olympischen Winterspiele in Lake Placid dramatisiert wird. Auf Sönke Wortmanns Das Wunder von Bern trifft das Gleiche zu, obwohl er den Sieg der westdeutschen Fußballer 1954 nur als Rahmengeschichte für ein kleines Familienmelodram um einen Spätheimkehrer und seinen Sohn nutzt. "Wunder" ist im übrigen in beiden Fällen das Etikett für einen Sportsieg, an dem sich das geknickte Selbstbewusstsein einer Nation aufrichtet. Und beide "Wunder"-Filme wären kaum gedreht worden, wenn die jeweiligen Spiele anders ausgegangen wären und sie mithin vom Verlieren handeln würden und nicht vom Sieg.

Der reale Fußball ist da anders: Unter den Legenden finden sich auch große Verlierergeschichten, als "Jahrhundertspiel" etwa wird selbst heute noch das WM-Halbfinalspiel von 1970 bezeichnet, in dem die Bundesdeutschen nach Verlängerung 3:4 den Italienern unterlagen. Und mit in fatalen Momenten verschossenen Elfmetern sind die Annalen der Fußballhistorie geradezu gespickt.

Obwohl das Melodram Titanic zu Recht als Muster der Vorhersehbarkeit gelten kann, also im Grunde als das Gegenteil von Sport, stimmt an dem Vergleich auch etwas: Am spannendsten nämlich sind Sportereignisse, wenn sie sich dem Melodramatischen annähern. Von den "Einschaltquoten" her kann sich Titanic im Übrigen als erfolgreichster Film aller Zeiten mit dem WM-Finale vielleicht gerade noch messen.

Titanic auf der einen und das reale Sportereignis auf der anderen Seite, darin spiegelt sich auch ein - nur vielleicht überholtes - Schema des geschlechterspezifischen Umgangs mit Intensitäten: Wo das Melodram, der woman´s film mit seinen vorhersehbaren Wendungen und Verzichtserklärungen die traditionelle "Schule der Empfindsamkeit" für Frauen darstellt, ist der Sport mit seinen Frustrationen, ungerechten Niederlagen und überraschenden Siegen die der Männer. Oder wie es vor nicht allzu langer Zeit mal eine Tabakfirma mit einem Werbe-Plakat illustrierte: Auf dem waren zwei Männer mit tränenden Augen und schmerzverzerrten Mündern zu sehen, vollkommen ergriffen von etwas, dem sie gerade zuschauten, zweifellos ein Sportereignis, dazu der Spruch "Männer, die Gefühle zeigen".

Sport und Film zusammenzubringen ist deshalb auch ein wenig so, als verarbeite man Rohes und Gekochtes zu einer Mahlzeit. Sportfilme sind die risikoarme Aufbereitung von Ereignissen, bei denen sich real nur mit der Bereitschaft für schmerzhafte Enttäuschungen mitfiebern lässt. Was aber passiert mit der Intensität der Empfindungen, wenn sie nicht mehr spontan und real sind, sondern inszeniert und dramatisiert? Das Wunder von Bern wurde zwar vor allem für seine Fußballszenen gelobt, - Fußball ist anders als Boxen oder Golf vergleichsweise schwer "nachzuinszenieren" -, seine emotionale Spannung aber bezog er ganz aus der Vater-Sohn-Handlung und nicht aus der Dramatik des Spiels.

So gibt es im Hin und Her zwischen Sport und Kino etwas, das nie ganz aufgehen kann. Übrigens auch umgekehrt: noch die zur Selbstdarstellung begabtesten Sportler wie etwa David Beckham werden nie wirklich ganz "Hollywood"; es ist, als bliebe eine Art Restpeinlichkeit an ihnen haften, die eben ihre "Sportlichkeit" verbürgt. Bertie Vogts Ungelenkheit und Franz Beckenbauers Eloquenz liegen in dieser Hinsicht auf ein und derselben Linie: Beide sind im Übermaß authentisch.

Obwohl also Sport und Kino nie wirklich zusammen kommen können, gehört es schon immer zur Sportberichterstattung, aus den Ereignissen, noch während sie geschehen, Geschichten zu formen, die bestimmten Erzählmustern folgen. Die Fußball-Puristen bestehen zwar darauf, dass das eigentliche Drama in den 90 Minuten auf dem Rasen stattfindet, doch es sind oft die Anekdoten "drum herum", die dem Ganzen erst Intensität verleihen: der vom Trainer ungeliebte, dann doch eingewechselte Spieler, der zwei Tore schießt oder das überraschende Versagen eines Favoriten. Das beliebteste Erzählmuster ist dabei stets die Außenseiterlegende, beziehungsweise der Kampf David gegen Goliath, wie gegenwärtig die Begeisterung für die Mannschaften aus Afrika und der Karibik belegt. So ist der Sport immer schon bereits ein bisschen Kino.

Im Kino wäre die Wahrscheinlichkeit der Mannschaft aus Trinidad Tobago, ins Finale zu kommen, allerdings sehr viel höher: Es wäre einfach eine gute Geschichte. Oder doch nicht? Die Belohnung der Figuren und damit auch der Zuschauer mit triumphalen Siegen macht Sportfilme zwar zu crowd pleasern, sie haben es relativ leicht, ein Publikum zu gewinnen. Damit erklärt sich aber auch das gewisse klebrige Element des Genres: Sportfilme sind meist recht plumpe Illustrationen von Allmachtsphantasien, vollgestopft mit nervigen Wiederholungen der "Du schaffst es!" und "Du bist der Größte!"-Mantras.

Bereits zum Jahresbeginn veranstaltete die Londoner Times in Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft eine Abstimmung über die besten Sportfilme aller Zeiten. Unter den ersten 10 findet sich bezeichnenderweise kein einziger Fußballfilm. Auf Platz 1 kam Martin Scorseses Boxerbiografie Raging Bull, im Grunde weniger ein Sportfilm als eine Charakterstudie. Ein ernst zu nehmender Film über den "Jahrhundertfußballer" Diego Maradona allerdings könnte sich gut daran orientieren. Für dieses Jahr sind übrigens sowohl ein Dokumentarfilm (gedreht vom bekennenden Fußballfan Emir Kusturica) als auch ein Spielfilm (Regie führt der Italiener Marco Risi) über Maradona angekündigt. Dabei schreibt er gerade noch eifrig selbst am Spielfeldrand Geschichte: Der Liebling der Unterprivilegierten bleibt seiner Rolle des Outcast treu, indem er nicht bei der Eröffnungsfeier an der Seite der eingeladenen Weltmeister erscheint und konsequent sowohl den FIFA-Offiziellen wie Blatter als auch seinem ungeliebten Konkurrenten um den Titel des "Jahrhunderfußballers" Pele ausweicht, aber sich zwischendurch als "Fan Nr. 1" die Ehre gibt. Maradonas Lebensgeschichte mit ihren großen Triumphen und tiefen Abstürzen bietet genug Stoff für ein Melodram. Und hat darüber hinaus das, was den Sport ausmacht: bis heute eine gewisse Unvorhersehbarkeit.


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