Ein alter sowjetischer Witz geht so: Militär-Parade auf dem Roten Platz, als Ehrengäste auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums Alexander der Große und Napoleon. "Hätte ich über die Rüstungstechnik dieses Landes verfügt, ich hätte ganz Asien in 30 Tagen erobert", meint Alexander neidvoll zu Napoleon. "Das ist doch noch gar nichts, hätte mir die Presse dieses Landes zur Verfügung gestanden - keiner hätte je erfahren, dass ich bei Waterloo verloren habe", gibt dieser zurück. Für höchst aktuell wurde dieser Witz vorige Woche in der Sendung Itogi (Bilanz) befunden, dem sonntäglichen Politikmagazin auf NTW. Einen Tag nach der Übernahme durch den Staatskonzern Gasprom wurde die Sendung zwar wie eh und je vom ehemaligen Chefdirektor des einst unabhängigen Senders, Jewgeni Kisseljow, moderiert allerdings auf einem anderen Kanal mit deutlich geringerer Reichweite ausgestrahlt.
Mit den übernommenen Programmen der Journalisten von NTW stiegen sprunghaft die Quoten dieses kleinen Kanals (der wie vor kurzem noch NTW selbst zu Gussinskis Media-Most-Gruppe gehört). Nur um wenige Tage später genauso sprunghaft für den Sender TW-6 in die Höhe zu gehen: TW-6 ist Eigentum des Oligarchen und einstigen Jelzin-Vertrauten Boris Beresowski, der wohl der Versuchung nicht widerstehen konnte, als Retter der Meinungsfreiheit aufzutreten, indem er den NTW-Journalisten "Asyl" anbot und Kisseljow die Chefredaktion seines Senders übergab. Was die bislang bei TW-6 beschäftigten Journalisten in die interessante Lage brachte, sich zwar ebenso unvermittelt auf die Straße gesetzt zu sehen wie die verehrten Kollegen von NTW, ohne aber zur eigenen Verteidigung vergleichbare Kaliber wie "Kampf um die Meinungsfreiheit" ins Felde führen zu können. Während sich die führenden Köpfe dieser Journalisten-Rochade in öffentlichen Briefen befehdeten - einer der wichtigsten Moderatoren von NTW, Leonid Parfjonow, hatte sich aus der Gefolgschaft von Kisseljow losgesagt - wechselte ein großer Teil der Entlassenen von TW-6 auf die frei gewordenen Stellen zu "Gasprom-NTW", wo die Kisseljow-Renegaten inzwischen unter der neuen Leitung angeheuert hatten und verkünden ließen, man erwarte weitere Abtrünnige bald zurück.
Nicht ohne Hintergrund, denn nun wurden Gerüchte laut, Beresowski müsse (oder wolle) seinerseits TW-6 bald an Lukojl verkaufen - dass Kisseljow mit seiner Mannschaft das "Rating" des Senders deutlich erhöht habe, käme ihm in den Preisverhandlungen gerade recht. Spekulationen darüber, dass wiederum Gasprom NTW-Anteile nun doch direkt an westliche Investoren - Ted Turner oder gar Leo Kirch? - weiterverkaufen wolle, machen die Situation nicht übersichtlicher. Angesichts all dessen lässt sich die entscheidende Frage nur schwer beantworten: Wo hört der Streit ums Eigentum, als den Präsident Putin den Konflikt deklariert, auf? Wo beginnt die Auseinandersetzung um die Meinungs- und Informationsfreiheit, als die das ganze Manöver im Westen (und von der Mehrheit der russischen Intellektuellen) gesehen wird?
Wie auch immer man die Rolle Putins in diesem Konflikt einschätzt, erfüllt doch zunächst eines mit Sorge: Dass mit Gussinski und Beresowski nun ausgerechnet die "Oligarchen" zu Vorkämpfern der Pressefreiheit in Russland hochgejubelt werden. Es sei an dieser Stelle in Erinnerung gebracht, dass diese antike Prägung einen im Grunde sehr unschönen Sachverhalt zum Ausdruck bringt, nämlich dass einige Wenige, eben jene Oligarchen, nach dem Zerfall der Sowjetunion das erkleckliche Staatsvermögen Russlands in ihren Privatbesitz gebracht haben, sehr am Rande der Legalität und zudem noch, wie man in Europa stellenweise schuldbewusst bekennt, unter Anleitung westlicher Berater. Diese Privatisierungsgewinnler verfolgen mit ihren Medien ihre eigenen Interessen, mal loyal zur Staatsmacht und mal konträr zu ihr, darauf kann man sich getrost verlassen. Stilisiert man sie jedoch zu Gegengewichten einer zensurwilligen Regierung hoch, kann man angesichts ihrer Geschäftspraktiken nur konstatieren: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Was im Übrigen für Ted Turner und Leo Kirch als eventuelle zukünftige NTW-Eigner auf andere Weise ähnlich gelten mag.
Putin und mit ihm ganz Russland stehe in der Tat ein Waterloo bevor, wenn nicht in nächster Zeit auf ökonomischer und technologischer Ebene ein Sprung nach vorne gelänge - darüber war man sich in der eingangs erwähnten Diskussionsrunde der sonntäglichen Itogi weitgehend einig. Um diesen Sprung forciert voranzutreiben, versuche Putin im Vorfeld jede mögliche Kritik im Keime zu ersticken, lautete die Interpretation der Geschehnisse auf dem Medienmarkt von Andrej Fjodorow, dem Direktor des "Zentrums für politische Forschung" in Moskau, bezugnehmend auf die "liberalistischen" Reden Putins in jüngster Zeit. Liberale Reformen mit totalitären Mitteln durchzusetzen, das sei zwar in Russland immer wieder probiert worden, bleibe aber ein unmögliches Unterfangen, hielt ihm die profilierte Politologin und Historikerin Lilija Schewzowa entgegen, um dann über die unheimliche Allianz von kommerziellen und politischen Interessen in der NTW-Affäre zu sprechen. Darüber, ob Russland sich auf dem Weg zurück in sowjetische Zustände oder voran zu einem Modell des "Konzerne-Staates" ähnlich wie in Südkorea befinde, war man unterschiedlicher Ansicht.
Gepflegte Diskussionen wie diese sind oder waren die Spezialität von NTW. In langen Jahren hartnäckigen, aber stets ruhig bleibenden Nachfragens hatte Kisseljow es in der Wahlnacht 1999 so weit gebracht, dass Politiker aller Parteien (mit der bezeichnenden Ausnahme Putins und der ihn unterstützenden Einheit) zuerst zu ihm in die Talkshow kamen, bevor sie zu den staatlichen Sendern gingen. Vier Jahre zuvor war noch kaum ein Politiker überhaupt dazu bereit gewesen, sich im Fernsehen einer Diskussion zu stellen. Als Ausübung des urdemokratischen Rechts, diejenigen kennen zu lernen, die das Volk wählen soll oder bereits gewählt hat, präsentierten die NTW-Journalisten ihre Diskussionsformate, unter der Woche die tägliche Talkshow um halbacht Der Held des Tages, am Wochenende der Tagesheld ohne Krawatte und die Sendung Volkes Stimme. Fürchteten sich zu Beginn viele (nicht zu Unrecht) wegen mangelnder Telegenität keine gute Figur zu machen, verstanden es mit der Zeit immer mehr Politiker, die mediale Plattform ihrerseits zu nutzen. Natürlicherweise kamen diejenigen am Besten zur Geltung, die als liberale Intellektuelle differenziert zu argumentieren verstanden, ohne vorschnell emotional zu reagieren. Obwohl die Moderatoren, allen voran die aparte Swetlana Sorokina, stets um sachliche Distanz bemüht waren, übertrug sich das Image jener gewandten Politiker unweigerlich auf den Sender.
Tatsächlich lässt sich der Eigensinn, das Image von NTW nämlich eher anhand eines Diskussionsstils, einer bestimmten telegenen Haltung beschreiben als unter dem Emblem "kremlkritisch". Denn seine Popularität (in den Quoten lag NTW leicht hinter ORT, dem ersten staatlichen Kanal, zurück, dicht gefolgt vom zweiten, ebenfalls staatlichen "russischen" Fernsehkanal) gründete sich weniger auf die doch nur stellenweise kritische Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg, sondern vor allem auf den Mut zur Innovation, was zu Beginn, im Jahre 1993, noch eindeutig hieß, sich an westlichen Modellen zu orientieren. Und auf den sorgsam inszenierten Anschein von Objektivität. Seine gültige Personifizierung fand das NTW-Image in Jewgeni Kisseljow, der seine Lesebrille auf die Nasenspitze hinuntergleiten lässt, um dann über dem Gestell seine Fernsehzuschauer zu fixieren. Schleppend, mit vielen Kunstpausen bietet er seine Moderationen dar, so als sei sein Gedankenfluss stets von tiefster Reflexion begleitet. Er versuche auszusehen wie "ein Intellektueller, der alles weiß, aber nicht alles sagt", beschrieb ihn dieser Tage eine Zeitung. Sein Magazin Itogi bot eine kommentierende Zusammenfassung der Wochenereignisse auf hohem journalistischen Niveau. Was man von seinen zahlreichen Dokumentationen zur Zeitgeschichte nicht unbedingt behaupten kann: Immer wieder vertrat Kisseljow zum Beispiel die These, Hitlers Überfall auf die Sowjetunion sei einem Stalinschen Angriff Deutschlands nur wenig zuvor gekommen. Die Präsentation angeblich einschlägiger Beweise für diese These unter völliger Auslassung aller Hinweise, die dagegen sprechen, brachte ihm harsche Kritik ein, konnte seinem Image als einer der professionellsten Fernsehjournalisten Russlands allerdings wenig anhaben.
Wie so vieles, ist auch das Fernsehen in Russland, trotz oberflächlicher Ähnlichkeit mit europäischen und amerikanischen Medien, immer noch ganz anders und immer noch in Transformation begriffen. In der Epoche der eingangs erzählten Anekdote bildete das Rückgrat des sowjetischen "zentralen Fernsehens" die Nachrichtenschau um neun mit dem Titel Vremja (Die Zeit). Doch Vremja war im Grunde keine Nachrichtensendung, sondern ein Ritual. Ihr Hauptsprecher, Igor Kirillow, gilt heute als Kultfigur: Sein schöner Bariton, seine vollendeten Intonationen, die die gezeigten Vorkommnisse stets mit der richtigen Dosis Optimismus präsentierten und nur bei Meldungen über die sich verschlechternde soziale Lage im kapitalistischen Ausland düster wurden, all das löst bei entsprechenden Generationen heute wilde Nostalgiegefühle aus. Das Wichtigste an Kirillow war jedoch: Er blieb stets der Gleiche. Der NTW-Journalist Parfjonow schnitt einmal für ein Porträt seine legendäre rituelle Begrüßung "Guten Abend, Genossen" aus völlig verschiedenen Jahren zusammen. Kirillow erwies sich darin als der ultimative Held der Stagnation: Weder Haltung, noch Miene, noch Tonfall hatten sich je verändert.
Nur langsam löste sich das russische Fernsehen von diesem sowjetischen Erbe der rein "rituellen" Funktion von Nachrichten. Dass Nachrichten wirklich Neues präsentierten, das war - so will es zumindest die TV-Legende - zum ersten Mal anlässlich der bewaffneten Kämpfe um das russische Parlament im Oktober 1993 der Fall. Es waren die neu eingeführten Vesti (Nachrichten) des zweiten Kanals, die Berichte brachten, denen man ansah, dass nicht vorher festgestanden hatte, was berichtet wurde. Das Team, das sich so bewährte, sollte wenig später die täglichen Nachrichten des neu gegründeten Senders NTW übernehmen. Und die Russen, vorher eher passive Teilnehmer des allabendlichen Rituals, entwickelten sich zu wahren Nachrichtenjunkies: Seit der Erweiterung zum Volltagsprogramm im Jahre 1997 gab es allein auf NTW bis zu achtmal am Tag das Nachrichtenformat Sewodnja (Heute) zu sehen - wohlgemerkt keine Ausgabe kürzer als 15 Minuten! In der Auswahl der Meldungen unterschied sich NTW nicht sehr von den staatlichen Sendern: Auch hier kam das Ausland fast nur in Katastrophen vor, auch hier schlich sich in den letzten Jahren immer mehr ein anti-westlicher Unterton ein. Und doch hatte man bei Sewodnja immer noch das Gefühl, am besten informiert zu werden. Nicht nur eine Folge der wenigen spektakulären Aufdeckungen des Senders, sondern auch seines kommerziellen Charakters - NTW führte die Neuerung ein, Information als Ware zu betrachten und als solche auch zu präsentieren: ansprechend.
Mitte der neunziger Jahre war deshalb die kommerzielle Ausrichtung des Senders gerade sein besonderer Chic: "NTW ist ein Geschäft, das viel Geld bringen soll", bekannte ganz ungeniert der damalige Generaldirektor des Senders Igor Malaschenko. Denn Kommerzialität galt als Inbegriff von Neutralität und Unabhängigkeit. Dieser Glaube an die balancierenden Kräfte des Marktes hat seitdem nicht nur unter Journalisten schwer gelitten, und trotzdem liegt darin immer noch der Grundstein für das aus westlicher Sicht paradoxe Verhältnis von "öffentlich-rechtlichen" bzw. "staatlichen" und "Privatsendern" in Russland: Angewiesen auf das Geld dubioser Finanzmagnaten nennt man sich unabhängig, vom Staat ausgehalten gilt man als per se bevormundet. Die Realität der Sender bestätigt das in der Tendenz, allerdings mit einigen nicht unwesentlichen Ausnahmen: Auch für die staatlichen Sender arbeiten einige hervorragende Journalisten.
Wie jedes Medium wurde NTW erst durch "bad news" so richtig berühmt: Die kritische Berichterstattung während des ersten Tschetschenienkriegs. Zu jener Zeit strengte die Jelzin-Administration sogar eine Klage gegen die Satiresendung Kukly (Puppen) an, der russischen Version des britischen Spitting Image-Formats (als Hallo Deutschland hierzulande nicht sehr erfolgreich). Die Klage wurde abgewiesen und nach anfänglichen großen Widerständen - schließlich hatte es in der Sowjetunion ein strenges Karikaturverbot der eigenen Herrscher gegeben - sahen sich die Politiker fortan immer häufiger mit ihrem kongenialen Puppengegenstück konfrontiert. Die NTW-Sendung wurde zum vielzitierten Allgemeingut.
Nicht lange ließ auf sich warten, was viele den ersten Sündenfall des Senders nennen: die Einschwörung auf die Jelzinsche Pressekampagne 1996. Verhindert werden sollte, dass ein Kommunist Präsident wird. Das Fernsehen auf all seinen Kanälen wurde zum wichtigsten Wahlhelfer Jelzins und NTW mit seinem objektiven, amerikanisierten Image, bildete darin ein ganz wesentliches Gewicht. Der forciert freundlichen Berichterstattung über den ersten Präsidenten Russlands folgten allerdings Jahre, in denen Segodnja stets besonders erbarmungslos die Ausfälle und Gebrechen Jelzins ins Bild rückte - als wolle man die Fälschungen des Wahlkampfs wieder wett machen. Mehr noch als 1996 sollte allerdings der Parlamentswahlkampf 1999 zu einer Medienschlammschlacht ausarten, die auch Kisseljows Image nicht mehr unbeschadet überstand. Zur Verärgerung vieler Zuschauer, die an der Neutralität des Senders hingen, zeigte er deutliches Engagement für Putins Gegenkandidaten Primakow. Nicht ganz ohne Grundlage legen viele die jetzigen Ereignisse als die Rache Putins dafür aus. Aber auch die Zuschauer "bestraften" den Sender im letzten Jahr mit sinkenden Quoten.
Ganz ähnlich wie in Tschechien vor ein paar Monaten erweist sich auch in Russland die Krise des Fernsehens letztlich als Krise der Intelligenz, der intellektuellen Elite. Denn Fernsehen in Russland ist ganz und gar personenbezogen. Die "Televisiontschiki" scheinen als Helden des Alltags, als mitunter eitle Prediger zu allem und jedem die früheren "Beherrscher der Köpfe", die Schriftsteller abgelöst zu haben. Welcher Journalismus in Russland betrieben wird, hängt deshalb nicht nur von den Eigentümern der Medien, sondern wesentlich auch von den Journalisten selbst ab. Entgegen anderslautender Meldungen gibt es in Russland immer noch eine relative Vielfalt von Medien, wovon die meisten zudem über eine hervorragende Internetpräsenz verfügen. Diese gewachsene Pluralität gleichzuschalten, würde noch ganz andere Maßnahmen erfordern als die, den Oligarchen auf den Zahn zu fühlen. Und ist im Übrigen ohne vorauseilenden Gehorsam und freiwillige Selbstzensur der Journalisten kaum vorstellbar.
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