"Das hier ist eben nicht Europa", entgegnet mir Pawel am Telefon. Ich habe ihm gerade erzählt, wie eigenartig ich es finde, dass das städtische Moskauer Freibad mit dem schönen Namen "Die Möwe" an einem sonnigen, heißen Sonntag um 16 Uhr geschlossen wird; angeblich, um geputzt zu werden. Kann man sich eine bessere Zeit aussuchen, um möglichst viele Erholungssuchende vor den Kopf zu stoßen? "Europa", das zeigt mir Pawels wenn auch ironisch gemeinte Antwort, ist von Russland aus gesehen weniger die Wiege abendländischen Denkens als eben vor allem eins: ein Dienstleistungsparadies.
Weil man mich so früh aus der "Möwe" verjagt hat, bin ich eine Stunde vor der verabredeten Zeit am Puschkinplatz. Mit Pawels Worten im Ohr sehe ich mich um: Hier in Moskaus Stadtmitte erscheint Russland als krude Mischung aus alteuropäischen Gebräuchen und dem letzten Schrei aus dem fernen Amerika. Denn natürlich läuft im großen Kino am Platz Matrix: Reloaded, telefoniert die Hälfte der Passanten gerade mit ihren Handys, während der steinerne Puschkin melancholisch zu McDonalds hinüberschaut, dessen Popularität allerdings stark nachgelassen hat zu Gunsten der neuen Coffeehouses, die nun die Tverskaya, den Kurfürstendamm Moskaus, säumen. So globalisiert das Konsumangebot, so sehr gemahnt das Verhalten der Menschen jedoch an die fünfziger Jahre: Die begehrtesten Plätze sind nämlich nicht die Plastikschalensitze der Straßencafés, sondern die rund um den Platz aufgestellten Holzbänke. Hier drängt sich Alt neben Jung; Pensionäre, denen man die bescheidene Rente schon an den mitgeführten ausgewaschenen Plastiktüten ansieht, sitzen selbstvergessen plaudernd neben Gruppen von freizügig gekleideten Mädchen, die sich die Kopfhörer ihrer tragbaren CD-Player aus den Ohren reißen.
Über die strategischen Winkel und Ecken des Platzes verteilen sich diejenigen, die hier verabredet sind; nicht wenige von ihnen halten ein Blümchen in der Hand. Wenn man, wie ich an diesem frühen Abend, selbst lange warten muss, kann man zur eigenen Unterhaltung die Rendezvous der Anderen verfolgen. Denn an der Art, wie sie hier zueinander finden, lässt sich der Beginn zarter Romanzen vom freudigen Wiedersehen schon entbrannter Leidenschaften unterscheiden; man wird Zeuge so manchen Streits, den eine Verspätung auslösen kann und so manch bitterer Enttäuschung. So hatte ich den eifrigen, in Vorfreude strahlenden Mann am U-Bahnausgang mit seiner besonders schönen Rose gleich bemerkt. Fast freute ich mich mit ihm. Als er aber nach einer Stunde immer noch dort steht, sinkt auch mir das Herz in die Tiefe. Das erwartungsfrohe Lächeln ist ihm zu einer verzweifelten Maske im Gesicht erstarrt. Ich bin froh, als Pawel kommt und ich den traurigen Verlauf der Geschichte nicht weiter verfolgen muss.
Pawel hat Bier mitgebracht. Ganz russischer Gentleman, macht er mir davon eine Flasche auf und mit den offenen Bierflaschen in den Händen flanieren wir über den Boulevard, wie das hier, generations- und geschlechterübergreifend, Sitte ist. Anders als das französische Wort vielleicht vermuten lässt, handelt es sich bei den Moskauer Boulevards um einen parkartigen Mittelstreifen, der den innersten der Straßenringe im Zentrum unterteilt. Zu beiden Seiten der langgestreckten Grünanlage staut sich um diese Zeit der vierspurige Verkehr. Von Stillstand und Hitze entnervte Blicke fallen von da auf uns, die wir mit Bierflaschen in den Händen der Bewegungsfreiheit frönen.
Später am Abend bin ich noch bei Ernst Thälmann verabredet. Meine Freundin Neya hat mich dorthin bestellt und gewarnt, ich würde den Platz nicht wieder erkennen. Tatsächlich bin ich fassungslos, als ich aus der U-Bahn trete. Wo vorher ein weites Nichts war, von ein paar provisorischen Büdchen besiedelt, steht jetzt ein U-förmiges Einkaufszentrum, eine "Gallerija". Mit glatten grauen Steinfassaden und der zeitlosen Funktionsästhetik bestätigt sie mir, wovon Pawel auf dem Boulevard gesprochen hat: Der Kapitalismus in Russland sei in eine neue Phase getreten. Statt luxuriösem Protzgehabe gelten nun glanzvolle Bescheidenheit und geschmackvolle Schlichtheit als schick. Vor diesem Tempel der "neuen neuen Russen", wie Pawel sie nannte, reckt nun noch immer, wie bestellt und nicht abgeholt, Ernst Thälmann in altsozialistischer Pose die Faust in die Höhe. Dem Konsumparadies hat er den Rücken zugewandt, was seiner Geste zusätzliche Naivität verleiht. Während ich auf Neya warte, beobachte ich, wie ein junger Mann mit Bierflasche sich zu Thälmanns Füßen setzen will. Die schwarz uniformierten Sicherheitsleute aus der "Gallerija" verbieten es ihm streng. Welch Demütigung, die eigene Würde von den Schergen des Kapitalismus verteidigt zu sehen! Auf einmal ergreift mich ein ähnliches Mitleid mit der übriggebliebenen Statue, wie mit dem Mann mit der Rose auf dem Puschkinplatz.
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