Der Charme trivialer Gesten

Medientagebuch Michael Klier vergleicht zwei Generationen deutscher Schauspieler, heute und vor 20 Jahren

Gerhard Schröder als Kanzlerdarsteller zu bezeichnen und ihm im Ausfüllen dieser Rolle gute Noten zu bescheinigen, ist zum Allgemeinplatz geworden. Früher schwang in dieser Aussage eine ironisch gebrochene Spitze mit, heutzutage ist es nur noch eine Feststellung. Wenig verwunderlich, dass eines der Glanzlichter der medialen Wahlkampfbegleitung die Begutachtung der Spitzenpolitiker durch die Brille eines Theaterkritikers war (Zeit vom 12. September), erst recht in der öffentlich vorgetragenen Version der besten Stellen dieses Textes durch Harald Schmidt, der ihn noch genüsslich mit viel Gestik und Mimik ausschmückte. An ihren Gesten sind sie zu erkennen, Politiker wie Schauspieler, Schauspieler wie Politiker. Weshalb nicht nur das Schauspielerhafte der Politiker von Interesse ist, sondern eben auch das Politische, oder besser: die soziale Dimension des Schauspielerischen.

Wie eine Rolle verkörpert wird, sagt einiges über die Zeit aus, in der wir leben. Michael Kliers kleine Sendung über Gesten und Gesichter, den deutschen Film und seine Darsteller, die der WDR in der Nacht zum Donnerstag ausstrahlt, ist deshalb weit mehr als ein Programm für Spezialisten. Für zwei Filmschauspieler-Generationen, einerseits der viel gelobten von vor zwanzig Jahren und andererseits der viel geschmähten von heute, versucht Klier, die jeweiligen Ausdrucksweisen und ihre Problematik aufzuzeigen. Seine Ergebnisse sind so überraschend wie einleuchtend.

Vor zwanzig Jahren noch genoss der deutsche Film großes internationales Ansehen. Volker Schlöndorffs Blechtrommel hatte 1979 die Goldene Palme in Cannes und 1980 den Oscar für den besten ausländischen Film erhalten; Margarete von Trotta war 1981 für Die bleierne Zeit mit dem Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnet worden, wie ein Jahr später auch Wim Wenders für Der Stand der Dinge und Alexander Kluge bereits für sein Lebenswerk; Rainer Werner Fassbinder wurde in New York mit Retrospektiven geehrt und Werner Herzog als Genie gehandelt. Es war, viele werden sich erinnern, die große Zeit des deutschen Autorenfilms.

Obwohl die Gesichter von Barbara Sukowa, Angela Winkler, Bruno Ganz und Klaus Kinski die Filmplakate ausfüllten, waren die Regisseure die Stars von damals und eben nicht die Schauspieler. Deren Leistungen wurden zwar ausgezeichnet und hervorgehoben, aber neben ihren amerikanischen Kollegen sahen sie doch aus wie Wesen von einem anderen Stern. Sie konnten sich nicht messen mit der Ausstrahlung eines James Dean oder Jean-Paul Belmondo, jener magischen Kraft, die irrationale Zuneigung hervorruft und die Lust zur Nachahmung; sie wollten es vielleicht aber auch gar nicht. Die sinkenden Zuschauerzahlen für deutsche Filme, die Anfang der Achtziger mit einem Marktanteil von unter zehn Prozent einen historischen Tiefstand erreichten, sprechen diesbezüglich eine eigene Sprache.

Den damals eher unpopulären Vergleich mit den Stars des amerikanischen und französischen Kinos zieht Klier zu Beginn seiner kleinen Schwarz-Weiß-Studie aus dem Jahr 1982, die der WDR der aktuellen Sendung vorausschaltet. Er stellt die unterschiedliche Herkunft heraus - das amerikanische Kino suche sich seine Darsteller auf der Straße, in Nachtclubs und Varietés, während der deutsche Film sie vom bürgerlichen Theater entlehne - und leitet davon auch die unterschiedlichen Ausdrucksweisen ab: das theaterhafte Zuviel in den schweren, angestrengten Gesichtern der deutschen Schauspieler von damals, die sich so inbrünstig um Bedeutung bemühen und kein Understatement kennen. Während so mancher Fernsehzuschauer sich sicher einer gewissen nostalgischen Wehmut wird nicht erwehren können beim Anblick der schönen Ernsthaftigkeit von Edith Clever und Jutta Lampe, hält Kliers polemischer Kommentar von allzu viel Sentimentalität ab: im verfeinerten kulinarischen Stil der Schaubühnenschauspieler setzte sich der Schulernst des deutschen Staatstheaters fort, heißt es da. Und auf einmal passiert etwas Merkwürdiges: Selbst wer damals, 1982, Klier niemals zugestimmt hätte, nicht zuletzt weil die "Konfliktgesichter" und das ganze "Bewältigungs"-Schauspiel so gut zum Zeitgeschehen passte, kann retrospektiv erkennen, wie viel Wahrheit Kliers stellenweise auch ungerechtes Urteil beinhaltet. Nicht umsonst hatte die Newsweek 1975 vom Filmwunder in Deutschland berichtet und im "wundervollen Gesicht" der Katharina Blum-Darstellerin Angela Winkler "die ganze Geschichte des einstmals großen deutschen Films widergespiegelt" gesehen. Im Bemühen, die gespenstische Puppenhaftigkeit des "Reichstheaterspiels" abzulegen, das sich mit den UFA-Stars in die fünfziger Jahre gerettet hatte, war beim Stummfilmexpressionismus und dessen Pathos angeknüpft worden. Das lässt manche - nicht alle! - Filme der späten Siebziger heute auf einmal sehr alt aussehen.

Der zweite, aktuelle Teil der Sendung beschäftigt sich, nun größtenteils in Farbe, mit der neuen Generation von Schauspielern seit den neunziger Jahren. Und wieder entdeckt Klier an ihnen etwas gegen den Trend: Wo sonst Verflachung und Niveaulosigkeit des neuen deutschen Films beklagt wird, sieht er den typisch cineastischen Charme der trivialen Gesten. An die Stelle der großen Gebärden und betonten Innerlichkeit sei die Kunst der Andeutung getreten. Anders als Winkler und Ganz vor zwanzig Jahren dürfen Franka Potente und Moritz Bleibtreu heute sinnlich, lustvoll und dynamisch sein, vor allem aber auch: einfach cool. Das lässt sie, so legt Klier nahe, filmischer erscheinen.

Kliers Sendung besteht aus nichts anderem als zwei mal zehn Minuten Film-Stills, ein paar wenigen Filmausschnitten und seinem selbst gesprochenen engagierten Kommentar. Doch sie schärft den Blick für den Einsatz des Over- wie des Understatement, für die Traditionen des Schauspielpathos und den besonderen Charme des Geheimniswahrens, mithin: für die Politik der Gesten.

Gesten und Gesichter. Der deutsche Film und seine Darsteller. Eine Sendung von Michael Klier. In der Nacht vom 2. Auf den 3. Oktober um 0.40 im WDR.

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