Was im realen Leben allenfalls theoretisch einsichtig ist, wird uns im Kino immer wieder bildlich vorgeführt: Der Weg ist das Ziel! Ohne diese sprichwörtliche Weisheit gäbe es das Genre des Roadmovies wohl gar nicht. Alla rivoluzione sulla due cavalli, der Hauptpreisträger des diesjährigen Festivals in Locarno, kündigt Ziel wie Weg schon im Titel an - zur Revolution auf 2CV, aber als die drei Helden schließlich in der Hauptstadt der Revolution ankommen, sind sie erst mal ratlos darüber, wo sie denn nun genau zu finden wäre, die Revolution. Ein diffuses Bild haben sie davon im Kopf: viele Menschen, Parolen und rote Fahnen. Als dann endlich ein wimpelschwenkender Demonstrationszug vorbeizieht, reihen sie sich freudig ein, nur um dann enttäusc
Die Stärken der Schwachen
Spielarten eines engagierten Kinos Die 54. Internationalen Filmfestspiele von Locarno zeigten verschiedene Versionen des David-gegen-Goliath-Motivs
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ann enttäuscht zu merken, dass es sich um Fußballfans handelt, die zum Stadion ziehen.Der Film des Italieners Maurizio Sciarra spielt in den letzten Apriltagen des Jahres 1974. Ein portugiesischer Exil-Student in Paris erfährt vom Umsturz in seiner Heimat und macht sich augenblicklich auf, nach Lissabon zu fahren, sein italienischer Zimmernachbar, ebenfalls revolutionsbegeistert, schließt sich ihm an und unterwegs treffen sie noch eine alte Freundin, die aus ihrem Alltagstrott ausbrechen möchte und mit ins Auto steigt. Schon allein das Gefährt, in dem sie die Reise antreten, eine leuchtendgelbe »Ente«, stellt wahrscheinlich für viele Zuschauer ein Objekt der Nostalgie dar, genauso wie die Revolutionslieder, die Sciarra in seinem Film erklingen lässt, oder auch die übrigen Insignien der Zeit - die bestickten, zotteligen Schafsledermäntel, die Herzlichkeit der Landbevölkerung und die Sturheit der Grenzbeamten Franco-Spaniens. Doch Alla rivoluzione ist nicht unbedingt ein sentimentaler Film, Sciarra erzählt seine Geschichte ganz ungetrübt von späteren Enttäuschungen oder dem Besserwissen im Nachhinein. Mit einer Art zärtlichen Bewunderung für die Begeisterungsfähigkeit seiner Helden führt er zurück in eine Zeit großer Hoffnungen. Wichtiger, als ein weiteres Mal anzudeuten, wie mehr oder weniger kläglich diese gescheitert sind, scheint ihm die Beobachtung der kleinen individuellen Veränderungen, die die engagierte, ja herzliche Anteilnahme am historischen Geschehen bei seinen Figuren auslöst.Man habe diesen Film als Preisträger bestimmt, weil darin Dinge wichtig genommen würden, die heute im allgemeinen lächerlich erscheinen, begründete Jurymitglied Antonio Skàrmeta die Wahl, und Jury-Präsidentin Janet Maslin lobte das gelungene komödiantische Element, das, obwohl schwer zu verwirklichen, im cineastischen Kontext oft unterschätzt würde. Zu solchen Ausführungen sahen sie sich genötigt, weil ein Teil der Jury die Entscheidung nicht mittragen wollte und in Erbitterung darüber sein Veto auf der abschließenden Pressekonferenz vortrug. Die italienische Schauspielerin Laura Morante und die französische Regisseurin Emilie Deleuze nämlich wünschten den goldenen Leoparden unbedingt an den iranischen Film Delbaran vergeben zu sehen und fanden diesen völlig zu Unrecht mit dem Spezialpreis abgefertigt. Delbaran erzählt von einem jungen afghanischen Flüchtling, der Unterschlupf findet in einer Wüstenraststätte auf iranischer Seite und dort einem alten Ehepaar zur Hand geht. Mit den stolzen Mitteln eines Kinos der Armut erzählt - sparsam im Dialog und der Zahl der Einstellungen, reich an schweifenden Blicken über zerfurchte Landschaften und Gesichter - stellt Delbaran gewissermaßen den heutigen Prototyp des »engagierten Kinos« dar, das, vermittelt am Schicksal eines Kindes, die Grausamkeit der Verhältnisse und die Ohnmacht diesen gegenüber schildert.Die Preise des 54. Internationalen Filmfestivals von LocarnoGoldener Leopard: »Alla rivoluzione sulla due cavalli« von Maurizio Sciarra (Italien)Spezialpreis der Jury: »Delbaran« von Abolfazl Jalili (Iran/Japan)Silberner Leopard: »L´Afrance« von Alain Gomis (Frankreich); »Love the hard way« von Peter Sehr (Deutschland/USA)Beste Schauspielerin: Kim Ho Hung in »Nabi« (Korea)Bester Schauspieler: Andoni Garcia in »Alla rivoluzione sulla due cavalli« (Italien)Lobende Erwähnungen: »Baby Boy« von John Singleton (USA); »Conjugation« von Emily Tang (Hong Kong); »Le lait de la tendresse humaine« von Dominique Cabrera (Frankreich), »The lawless heart« von Neil Hunter und Tom Hunsinger (Großbritanien)Publikumspreis: »Lagaan« von Ashutosh Gowariker (Indien)Fipresci-Preis: »Miss Wonton« von Meng Ong (Singapur/USA)Das Erstaunlichste am Streit unter den Jurymitgliedern war im Grunde die Tatsache, dass nicht ein Disput über inhaltliche Fragen oder ideologische Ausrichtungen die Fraktionen teilte, sondern einer über stilistische Kriterien. So ähnlich sich die beiden Filme im Gehalt, in der Aussage, in ihrem Engagement sind, so sehr trennen sie formal Welten: die scheinbar leichte, eingängige und bunte Komödie Alla rivoluzione von der kargen Unzugänglichkeit und der Verschlossenheit des Fremden in Delbaran. Wo ästhetische Fragen so wichtig genommen werden, kann allerdings die Gesamtauswahl nicht schlecht gewesen sein. Obwohl also das Festival durch die Uneinigkeit der Jury in Dissonanz beendet wurde, war doch das Lob für die neue Direktorin Irene Bignardi einhellig.Vom »anderen« Stil, der das Filmfestival von Locarno prägte und den sie erhalten und profilieren wolle, hatte Bignardi zu Beginn gesprochen, und wer wollte, konnte sich im Verlauf ein Bild dieses »anderen« machen. Was sowohl viele Wettbewerbsfilme als auch viele Filme der Nebenreihen auszeichnete, war eine Form des persönlichen Engagements - selten für ein direktes politisches Projekt, oft aber in Gestalt einer leidenschaftlichen Anteilnahme. Wie etwa in Le lait de la tendresse humaine von Dominique Cabrera, in dem eine Mutter von drei Kindern, das jüngste noch ein Säugling, eines schönen Tages einfach aus der Wohnung läuft und so erschöpft wie depressiv Unterschlupf bei der Nachbarin sucht. Cabrera interessiert sich für die feinen Kreise der Erschütterung, die der Zusammenbruch einer Person in ihrer Umgebung zieht. Es sind keine dramatischen Veränderungen, von denen Eltern, Freunde, Arbeitskollegen mit ergriffen werden, sondern allenfalls Verschiebungen. Diese aber lassen oft die vorhandenen Beziehungen in ganz anderem Licht erscheinen.Als ob die Parole der siebziger Jahre vom politischen Charakter des Privaten erneut aktuell werde, widmeten sich auffallend viele Filme der Untersuchung von familiären und freundschaftlichen Bindungen. John Singleton nahm sich in Baby Boy das Phänomen der schwarzen Muttersöhne vor, und gab eine eindrückliche Beschreibung dessen, was hinter dem hervorgekehrten Machotum doch stets vermutet wird: Das mangelnde Vermögen sich abzunabeln. In Comment j´ai tué mon père wird wider Erwarten der Vater nicht umgebracht, obwohl dessen plötzliches Auftauchen nach Jahrzehnten der Abwesenheit das Leben seiner Söhne völlig verändert. Anne Fontaines Film behandelt sozusagen das Negativ der mangelnden Abnabelung: Wie soll man sich von einem Vater lösen, den es nicht gab und zu dem man erst eine Beziehung aufbauen müsste, bevor der Emanzipationsprozess beginnen könnte. In dem chinesischen Film Conjugation wiederum ist die Freundschaft das einzige, was eine Gruppe von Studenten im Winter 1989 noch am Leben hält, wobei es vor allem die Bindung an einen Abwesenden ist, die sie immer wieder zusammenkommen lässt; einer von ihnen nämlich ist seit den Ereignissen auf dem Tiananmen im Sommer »verschwunden«. Nie mehr reden die Freunde über Politik, heimlich teilen sie nach vergeblichem Warten auf die Rückkehr des Verschollenen die Spendenkasse untereinander auf. Das Überleben nach der Zeit der großen Hoffnung zeigt Emily Tang in ihrem Regiedebut als große Anstrengung, der das Ziel abhanden gekommen ist.Wie bitter und langlebig die Erinnerung an eine Niederlage sein kann, schildert ein Spieler des argentinischen Fußballvereins »Banfield« 50 Jahre nach der historischen Niederlage gegen »Racing«: »Man hat uns die moralischen Champions genannt, aber wir waren gar keine Champions, wir haben verloren!« Evita Capitana heißt der kleine Dokumentarfilm über das Ligaspiel im Jahre 1951, das im kollektiven Gedächtnis der Argentinier eine besondere Stelle einnimmt: »Racing« nämlich, das war Goliath, der Verein, der sich anschickte, zum dritten Mal in Folge die Meisterschaft zu gewinnen und der unterstützt wurde vom Finanzminister der Perón-Regierung. »Banfield« dagegen war in der Rolle des David, der ärmste Verein der Liga, aber dafür von Evita höchstselbst auserkoren, der würdigere Sieger zu sein - als Unterstützung der laufenden Wahlkampagne Peróns, als Beweis für dessen erfolgreichen Einsatz für die Ärmsten der Gesellschaft. Glaubt man den Spielern, hat Evita sogar versucht, den Torhüter von Racing zu überreden, Banfield gewinnen zu lassen. Der Torhüter zog sich aus der Affäre, indem er bat, gar nicht erst aufgestellt zu werden. In rasanten Schnitten von Archivaufnahmen auf Zeitzeugenaussagen lässt Nicolas Malowicki ein Wissen lebendig werden, das man so in keinen Geschichtsbüchern findet.Die schöne Kinogeschichte des Kampfes von David gegen Goliath erzählt auch der indische Film Lagaan, der in diesem Jahr den Publikumspreis des Festivals erhielt. Aufgeführt auf der Piazza Grande vor fast 6.000 Zuschauern erwies sich das Werk aus »Bollywood« als das Ideal eines Freiluft-Films mit Liebe, Sport, Gesang und Tanz - und eben dem Sieg der Unterdrückten über ihre Unterdrücker. Es ist eine Niederlage in ihrem Nationalsport Cricket, den die britischen Kolonialherren hier erleiden und die Art und Weise, wie Regisseur Ashutosh Gowariker den als langweilig geltenden Sport in ein fesselndes Drama verwandelt, wie der strahlende Held und Alleskönner Bhuvan eine Mannschaft um sich sammelt, die aus lauter Sonderbegabungen besteht - der eine kann nur werfen, der zweite nur fangen, der dritte nur den Ball zum »spinnen« bringen usw. - und so auch noch die indische Kastengesellschaft untereinander aussöhnt, das war dazu angetan, auch noch das Herz des letzten »Bollywood«-Verächters zu erobern. Als nach fast vier Stunden der von den indischen Bauern lang ersehnte Regen auf der Leinwand fiel, blieb auch bei den Zuschauern auf der Piazza kaum ein Auge mehr trocken. Hier war es ganz nah gewesen, das Ziel.
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