Der Zufall will es so, dass Christian Petzolds Die innere Sicherheit wie ein Beitrag zur aktuellen Debatte wirkt. Wird in den Nachrichten und Talkshows gegenwärtig die Frage diskutiert, ob ein ehemaliger Straßenkämpfer Außenminister bleiben darf, beschäftigt sich Petzold in seinem Film damit, ob ehemalige Terroristen Kinder aufziehen sollten - im Untergrund. Das ist die suggestive Ausgangssituation des Films: Ein Paar mit 15-jähriger Tochter in einem portugiesischen Touristen-Ort am Strand; es ist Nach- oder Vorsaison - eigentlich müsste das Kind doch zur Schule gehen? So ist von Anfang an offenbar, welch schwierige Doppelidentität Jeanne, die Tochter, hat. Einerseits ist sie die perfekte Tarnung ihrer Eltern - wer würde in diesem schön anzusehenden Modell von Kleinfamilie Terroristen vom Fahndungsplakat vermuten? Andererseits ist sie die größte Gefahr für diese Tarnung, weil Kinder, wo ihr Alltag vom normalen abweicht, viel mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen als nicht ganz so alltägliche Erwachsene.
Die Normalität ist hier also der mühsam aufrecht erhaltene bloße Schein und zugleich das heiß Ersehnte. Nicht der Ausbruch aus den Fesseln des Alltags, wie sonst so oft im Kino zu sehen, wird in der Inneren Sicherheit mit Sympathie verfolgt, sondern dessen Inversion: das Zurückfinden ehemaliger Aussteiger in den Schoß aller Sozialität, in die Keimzelle der Gesellschaft, die Kernfamilie. Aber keine Sorge, das Ende ist tragisch.
Weil die Motive des klassischen Befreiungskinos sozusagen umgedreht werden, geht die Reise der netten Kleinfamilie auch aus dem Süden zurück ins kalte Deutschland. Die materielle Not zwingt die Eltern zur Retrospektive im wörtlichen Sinn, nämlich alte Freunde aufzusuchen, wobei jeder Besuch einem Test auf Treue und Verrat gleichkommt. Dass die Tochter sich in einen Unbekannten verliebt, kann dem nur in die Quere kommen. Am Ende erwacht Jeanne auf freiem Feld und ganz allein wie aus einem Traum. Mit ihr sieht sich der Zuschauer plötzlich wie herausgeschleudert aus einer Tagesphantasie.
Denn tatsächlich hat Petzolds Film mehr mit Phantasieren als mit Diskutieren zu tun, weshalb er zur "Debatte" auch keinen Beitrag leistet, sondern allenfalls ein Symptom liefert. Ganz anders als Volker Schlöndorff und Wolfgang Kohlhaase noch mit Die Stille nach dem Schuss, die versuchten, den realen historischen Gegebenheiten mit fiktionalen Mitteln auf die Spur zu kommen, interessiert sich Petzold nicht wirklich für Geschichte, weshalb er auch nicht recherchiert hat. Dafür hat er sich inspirieren lassen, zum einen von Kathryn Bigelows Near Dark, in dem Vampire wie "normale" Amerikaner on the road sind, und zum anderen von einer irgendwo aufgeschnappten Bemerkung, dass der Terrorist Grams Marmelade eingekocht habe. Wo in Schlöndorffs Film die Figuren fast zu schwer gerieten unter der historischen Last, wirklich zu erscheinen, mehr zu sein als ein Puzzle aus Aussagen, Selbstzeugnissen und Analysen, die es von und über die RAF gegeben hat, sieht man bei Petzold das andere Extrem: Seine Figuren sind fast zu leicht, zu unfertig und oberflächlich gestaltet.
Die Leichtigkeit ist wohl Absicht, genauso wie die Unschärfe in der zeitlichen Verortung der Geschichte. 20 Jahre im Untergrund soll das Paar hinter sich haben, die Tochter ist nun fünfzehn, und eigentlich kommt es dem Regisseur nur auf diese Zahl an. Fünfzehn ist das Schwellenalter, das Alter in dem die Ablösung von den Eltern beginnt. Wie löst man sich von Eltern, die im Untergrund leben?
Für nicht wenige aus der Generation, der Petzold selbst angehört (geboren 1960), war die Sympathie für die Terroristen ein wichtiger Moment in diesem Ablöseprozess. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Die innere Sicherheit mehr von dessen eigenen pubertären Dilemma erzählt als über ein Leben 20 Jahre im Untergrund.
Als Film über ein besonders schmerzliches und schwieriges Erwachsenwerden vermag Die innere Sicherheit zu fesseln. Atmosphärisch dicht, mit hervorragend minimalistisch spielenden Schauspielern besetzt, verfolgt man gebannt und seltsam neugierig das Geschehen: Wie sieht so ein Alltag aus, auf der Flucht, wenn man sich mit nichts anderem beschäftigen kann als dem Fliehen, die ganze Zeit in Tarnung. Richie Müller ist ein einleuchtend zwiespältiger Vater, der einerseits die Gewalt noch dicht unter der Haut zu haben scheint und dessen Machoallüren ihn andererseits zu einem zwar strengen, aber auch fürsorglichen Vater machen. Barbara Auer als die Mutter ist schön und wie in nicht mehr gefühlter Angst starr geworden. Kein Wunder, dass die von Julia Hummer gespielte Tochter nicht wirklich gegen die Eltern rebelliert, sondern gegen die Einschränkungen, die das Leben im Untergrund so mit sich bringt. Glaubhaft vermittelt der Film die Atmosphäre der ständigen Anspannung, des nie zur Ruhe kommenden Misstrauens allem und allen gegenüber.
Wie leicht angesteckt von dieser Paranoia sucht man bald auch als Zuschauer den Film ab nach Dingen, die nicht stimmen. Und entdeckt eben, dass Petzold sich nicht wirklich für den Marmelade kochenden Grams interessiert, sondern für die Aura, die sich aus der Diskrepanz ergibt: Helden privat. Seine Figuren sagen wenig, aber dadurch betont lakonische und betont bedeutungsvolle Sätze. Eine Mischung, die als Popsong ungeheuer überzeugend wirkt. Aber vielleicht sind die Charaktere in Die innere Sicherheit tatsächlich am besten als Pop zu beschreiben. So wie jenes Che-Guevara-Plakat in vielen Jugendzimmern: Die Attraktivität war nicht der politische Inhalt, sondern die suggestive, ausdrucksstarke Haltung. So ist es kein Zufall mehr, dass Petzold auf jeden explizit politischen Bezug verzichtet; nur so kann er seine Helden als letzte Mohikaner beschreiben, deren Riten uns faszinieren und anrühren, solange wir uns nicht damit auseinandersetzen müssen.
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