Die Erde, das ist unsere Mutter - und die verkauft man nicht!" - So lautet eines der Argumente, mit denen im russischen Parlament die Verabschiedung eines Gesetzes zur Regelung von Landeigentum immer wieder verhindert wird. Pjotr Luziks Film Okraina ist in gewisser Hinsicht ein Traktat genau zu diesem Thema: Enteignung und Gerechtigkeit - archaische Metaphorik, und wie sie das Denken bestimmt.
Aus einer altertümlich anmutenden Chronik erfährt der Zuschauer zu Beginn die Ausgangslage: Man schreibe das Jahr 199., das Land der Bauern sei verkauft worden. An wen und von wem, das wisse keiner genau. Die ersten Szenen zeigen eine unwirtliche winterliche Landschaft, über die heulend der Wind hinwegfegt. Auf dem zugefrorenen Fluß zwei Männer mit geschulterten Gewehren - eine eisige Anti-Idylle mit einem Zug ins Unheimliche. Der Grusel nimmt auch bald seinen Lauf; drei alte Bauern schwatzen einem Mütterchen ihren schwächlichen Sohn ab, um loszuziehen auf der Suche nach dem Verantwortlichen für ihre Enteignung. Am Ende ihres Feldzugs sieht man sie vor dem Hintergrund der in Flammen stehenden Stadt Moskau gen Heimat ziehen, wo sie im Schlussbild auf Traktoren mit glücklich-kühnen Gesichtern gemeinsam ihr Land bestellen werden.
Dazwischen liegt eine ganze Reihe von grausamen Taten. Der Kolchosvorsitzende, den die rachedürstigen Bauern als ersten aufsuchen, wird fast im Eisloch ertränkt, bevor er mit der Wahrheit rausrückt. Die Kinder des Genossenschaftlers müssen auf dem Ofen sitzen, der so lange angeheizt wird, bis jener zu reden beginnt. Der Gebietssekretär schließlich wird im dunklen Kellerloch bei lebendigem Leibe von einem der Bauern angenagt (!), was er nicht überlebt, sein Sohn wird erschossen, und die letzte Station, die Hauptstadt Moskau, liegt nach dem Einzug der Bauern in Schutt und Asche. Und trotzdem ist Okraina kein Horrorfilm, sondern eher eine Komödie, wenn auch eine sehr makabre. Ein Film, der verführt: zum Lachen über Dinge, die nicht komisch sind,und zur Sympathie mit Figuren, die eigentlich nicht sympathisch sind.
Ob er seinen Film als Aufruf zum Aufstand verstanden wissen wolle, wurde der Regisseur bei der ersten Aufführung des Streifens auf der Berlinale im letzten Jahr gefragt. Er hoffe nicht, war seine Antwort. Ein Kokettieren mit den potentiellen Wirkungen, die sein Film entfalten kann, ist jedoch unverkennbar. Und das hat weniger mit dem sozialrevolutionären Inhalt zu tun als vielmehr mit der Form. Okraina ist in schwarz-weiß gedreht und rekurriert in der gesamten Filmsprache auf die sowjetischen Klassiker der zwanziger und dreißiger Jahre. So gleicht sein Film einem Experiment - noch einmal jene explosive Mischung zusammenzustellen, die früher das Etikett "revolutionär" trug, allerdings diesmal, ohne sich damit zu identifizieren. Weshalb der Film auch im Ganzen merkwürdig unterkühlt bleibt. Zwar brennt es auf der Leinwand, im Herzen des Zuschauers aber liegen die Gefühle im Widerstreit: man weiß nicht, was man davon halten soll.
Das liegt zum einen an der eingesetzten Musik. Luzik hat sie aus den sowjetischen Klassikern übernommen, was allein schon nostalgisch wirkt, und außerdem dabei stets die eher getragenen, melancholischen Passagen ausgewählt. Und zum anderen am analytischen Charakter des Filmes - es ist, als ob einem die Elemente vorgeführt werden, die es braucht, um die emotionale Intensität der Klassiker zu erreichen. Da sind die Märchen- oder Sagenmotive. Da ist vor allem aber das ganze Panorama an Szenen aus der Bibel der Kriegsromantik: das einfache Lager mit der Suppe aus Blechnäpfen fürs leibliche Wohl und einem Gedicht für das der Seelen. Und natürlich die Gesichter der Schauspieler, aufgenommen wie damals die Helden der Arbeit, immer etwas starr, merkwürdig unpsychologisch und doch voller Ausdruckskraft.
Was Okraina nun von seinen Vorbildern stark unterscheidet, ist die Tatsache, dass genau jene Formen, die einst als naturalistisch empfunden wurden, heute extrem künstlich wirken. Aber es ist paradoxerweise diese Künstlichkeit, die Luziks Film die Wirkungskraft verleiht, vor der man sich heute in Rußland zu fürchten scheint. Man solle diesen Film besser nicht in der Provinz zeigen, hieß es nach der Premiere, und der Regisseur meint, aus selbigen Grund sei sein Film im russischen Fernsehen nicht vorführbar. So wiegelt der Film anscheinend bislang weniger das Volk auf, als dass er die Angst vor unberechenbaren Aktionen eben jenes Volkes schürt. Trotz oder gerade aufgrund seines artifiziellen Charakters hat es Okraina auf diese Weise geschafft, ein soziales Anliegen zu erfüllen: die marginalisierten Gestalten draußen auf dem Land und ihren Anspruch auf Gerechtigkeit in Erinnerung zu rufen. Ein beunruhigender Film, unheimlich und interessant.
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