Entrümpelung

Berliner Abende Der Mai macht nicht alles neu, sondern sentimental. Das liegt am Licht. Es ist, als habe die Frühjahrssonne eine besondere Klarheit, die das Putzen ...

Der Mai macht nicht alles neu, sondern sentimental. Das liegt am Licht. Es ist, als habe die Frühjahrssonne eine besondere Klarheit, die das Putzen der Fenster mit Vehemenz einfordert, um dann, wenn man diesem Druck nachgegeben hat, erbarmungslos ins Innere vorzudringen und zu enthüllen, was sich dort so alles angesammelt hat. Wer vor dieser Begegnung mit Staub- und Erinnerungsschichten nach draußen flieht, den erwischt es auch dort, selbst nachts.

Wohin gehen wir, fragen Susanne und ich uns gegenseitig, als wir aus dem Theater kommen. Gegenüber geht nicht, da haben wir uns einmal übel zerstritten, das soll nicht wieder vorkommen. Sie will auch nicht eins weiter. Da hat sie sich zuletzt mit Anna getroffen, auch keine Geschichte mit Happy End. Ich wiederum will nicht in die Grolmannstraße, ebenfalls wegen gewisser Vorfälle, an die ich nur ungern zurückdenke. So wird im Frühjahrsabendlicht die Stadt zur Rumpelkammer, in der sich die Erinnerungen stapeln, vornehmlich die abgelegten und unliebsamen. Berlin ist groß. Doch irgendwann ist es so, als ob jede Ecke mit Sirenenstimme mahnt: »Weißt du noch ...?« Wie entrümpelt man eine ganze Stadt?

Am einfachsten ist es noch mit den Orten, die verschwunden sind. Das sind im »neuen Berlin« nicht wenige. Irgendwo unter den zu entsorgenden Papierstapeln zuhause müssten zum Beispiel die Fotos liegen von Kathrin, Kerstin und mir, wie wir vor dem Reichstag Faxen machen. Der Reichstag hatte noch keine Kuppel, oder keine mehr, je nach dem. Drum herum war nichts. Es war ein bisschen wie an einer Ausgrabungsstätte. Wir spielten in den Ruinen einer untergegangenen Welt. Auf unseren Gesichtern erkennt man die heitere Zuversicht, dass hier kein Einheitsdeutschland mehr ausgegraben werde. Heute kostet das Fußballspielen dort 50 Euro Strafe.

Dann gibt es Orte, da geht man einfach nicht mehr hin. Wie ins »Kleine Europa«. Gehen wir woanders hin oder gleich ins »Kleine Europa«, hatte Susanne mich früher immer gefragt. Sie wusste, ich schätze die Wiederholung. Ich hatte es zwar dort nie so weit gebracht, den Wirt mit Vornamen zu kennen, aber ich wurde begrüßt. Und bekam in der Weihnachtszeit Kuchen überreicht. Dann wollte es der Zufall, dass ich mich von fast allen Menschen, mit denen ich regelmäßig hergekommen war, durch Entfremdung oder im Streit getrennt hatte. Neue Menschen dorthin zu führen, war riskant - die alten Freunde könnten ja noch dort sitzen. Ich hatte auch den Eindruck, dass der Wirt das nicht gerne sah. So blieb ich fern.

Der Reichstag und das »Kleine Europa« sind jedoch allenfalls Vorstufen der Frühjahrsentimentalität, eher ein nostalgisches Kokettieren mit Vergangenheit. Es gibt Schlimmeres - zum Beispiel den Chinesen auf der Kurfürstenstraße. Dort war ich nur zwei Mal im Leben und muss doch immer noch die Augen zumachen, wenn ich daran vorbeikomme, seelisch sozusagen. Der Mensch, der mich die beiden Male dorthin eingeladen hatte, wohnte gar nicht in Berlin - was auch die Wahl des Restaurants erklärt. Trotzdem sah die Stadt, als die Geschichte vorbei war, auf einmal ganz anders aus. Einen Sommer lang war ich so manches Mal extra einen Umweg gefahren, um an jenem Cafe in Schöneberg vorbeizukommen, wo wir uns kennen gelernt hatten. Es war eine Art Beschwörungsformel, ein Mantra gegen seine ständige Abwesenheit, die meine Wege auf diese Weise mehr prägten als die Tage seiner Anwesenheit. Um so schwieriger sollte es dann werden, diesen Erinnerungen an Abwesenheit wieder zu entkommen.

In der Phase des größten Unglücks, als mir vor Liebeskummer die Decke auf den Kopf fiel, versuchte ich an neue, mir fremde Orte zu flüchten, zum Kollwitzplatz zum Beispiel. Es war ein frühes warmes Frühjahr, und gnädig gewährte mir die Sonne damals das melancholische Vergnügen, einsam unter Menschen sitzen. Auch da kann ich nicht mehr hingehen, haftet all den neuen Cafés doch noch immer genau das Unglück an, was ich dort hinter mir zu lassen versuchte. So gesehen war es eine erfolgreiche Strategie gewesen.

Die bedrückendste Erinnerung geht jedoch seltsamerweise von einer Straßenecke aus, wo gar nichts wirklich gewesen war: Ich hatte erfahren, er sei wieder in der Stadt und wähnte ihn an einer bestimmten Adresse. Mit weichen Knien und suchenden Augen bin ich wochenlang immer wieder hier vorbeigekommen, auf dem Fahrrad, mit dem Auto, im Bus. Dann kam der Anruf, er sei längst ganz woanders untergekommen. Kein Wunder hatte ich ihn nie gesehen. Der Ort wurde diesen Fluch trotzdem nie mehr los. Obwohl es Jahre her ist, überfällt mich am Tauentzien noch heute eine gewisse Unruhe. Häufig bin ich dann schneller an der Stelle vorbeigefahren, als ich realisieren kann, woher das flaue Gefühl eigentlich kommt. Wie wird man die Erinnerung los an etwas, was nicht stattgefunden hat?

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