"In Gleiwitz greifen als Polen verkleidete SS-Truppen die Radiostation an, um Deutschland einen Vorwand für die Attacke Polens zu geben" – so hätte vielleicht eine Meldung auf Twitter gelautet, wenn es zu Beginn des Zweiten Weltkriegs den Kurznachrichtendienst gegeben hätte.
Nun kam die Meldung mit 72 Jahren Verspätung als Tweet am 31. August 2011, und verfasst hat sie kein Zeitgenosse, sondern Alwyn Collinson, ein 24-jähriger Marketingmanager aus Oxford, der auf diese Weise sein Experiment begann: den gesamten Verlauf des Zweiten Weltkriegs in Twittermeldungen nachzuverfolgen.
Es klingt verführerisch selbstverständlich: „den Zweiten Weltkrieg twittern“. Aber weiß man, was das wirklich heißt? Es herauszufinden, darin besteht der große Reiz des Unternehmens @realtimewwii, das mit einer Hundertschaft von Followern begann und bald die Grenze von 200.000 überschreitet.
„Es sieht aus, als ob Zebras durch die Wälder streifen (Ponys werden angemalt, damit sie von Fahrern während der Verdunklung gesehen werden)“, lautete ein Tweet vom 25. November; dass die „kaiserliche japanische Armee 25.000 chinesische Soldaten nördlich von Kanton getötet haben will“, wird am 8. Januar gemeldet, genauso, dass „in Helsinki die Kirchenglocken läuten und sich Fremde auf den Straßen in den Armen liegen, so die Zerstörung der eingeschlossenen 44sten und 163sten sowjetischen Divisionen feiernd“. Und am 15. Januar: „Todesrate unter der jüdischen Bevölkerung von Warschau erreicht 70/Tag: Typhusepidemie in überfüllten Wohnungen, Hunger aufgrund von Nahrungsmittelkonfiszierung durch die Nazis“. Ab und zu gibt es ein Bild, mal das „aktuelle“ Cover des Time Magazine mit dem japanischen Kaiser vorne drauf, ein anderes Mal Unity Mitford, die britische Adelstochter, wie sie ihr Idol Adolf Hitler anhimmelt.
Kein eitles Celebrity-Instrument
Dieses Sammelsurium an Meldungen, an „echten“ Nachrichten und Trivia, in die willkürliche Ordnung von bis zu 40 Tweets am Tag gebracht, von denen bekanntlich jedes einzelne nur 140 Zeichen umfassen darf – hört sich wie der schlimmste Albtraum eines Medienkritikers an. Hat man nicht früher schon die Fernsehnachrichten kritisiert für ihr hierarchieloses Aneinanderreihen von Dingen, die nicht zusammengehören, für die Bevorzugung von einzelnen Sensationen vor der Analyse?
Es brauchte den Hype des Arabischen Frühlings, um Twitter vom Ruch eines eitlen Celebrity-Instruments zu befreien. Aber, das kommt beim Verfolgen von @realtimewwii zu Bewusstsein, auch im Allgemeinen haben sich die Kriterien verschoben. Dank des Internets und seiner Recherche-Ressourcen kann heute jeder den Kontext zu einer Einzelmeldung rekonstruieren, sie in den großen Zusammenhang einordnen und analysieren.
Alwyn Collinson, der „Autor“ von @realtimewwii, hat zwar einen Collegeabschluss in Geschichte, ist aber kein Spezialist für den Zweiten Weltkrieg. Den Stoff für seine Meldungen sucht er sich Woche für Woche im Internet zusammen. Diese „naive“ Herangehensweise, die daher rührt, dass Collinsons Interesse mehr dem Social-Media- Experiment als der Geschichtsforschung gilt, stellt zugleich sicher, dass man es hier nicht mit einer Inszenierung à la Orson Welles’ Krieg der Welten zu tun hat – @realtimewwii bietet weniger und mehr: nicht die Präsentation des Zweiten Weltkriegs auf Augenhöhe, sondern jede Menge Anstoß, sich die Ereignisse von damals täglich neu zu vergegenwärtigen, sich zu erinnern und zu reflektieren.
Barbara Schweizerhof schrieb an dieser Stelle zuletzt über die E-Book-Nutzung
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