Das Fernsehen hat uns schon viele peinliche Momente beschert, deren peinlichsten ich allerdings, das liegt in der Natur der Peinlichkeit, schon längst vergessen, beziehungsweise verdrängt habe. Diffuse Erinnerungen an Gestalten wie Joachim Kulenkampff und Peter Frankenfeld kommen hoch, an jene manchmal auch als "Dinosaurier" bezeichneten Alt-Stars der "großen Fernseh-Abendunterhaltung", deren Witzigkeit - wie gesagt, die Erinnerungen sind ungefähr - sich auch nicht immer in den engen Grenzen des guten Geschmacks hielt. Trotzdem ist es zur Gewohnheit geworden, jenes ferne Medienzeitalter als "paradise lost" zu empfinden, als Zeit der Unschuld, in der die bösen Verführer, die Privatsender noch keine Anschläge auf den öffentlichen Anstand verüben konnten. Ja ja, die Geschichte der Medien ist die eines permanenten Kursverfalls, was das "geistige Niveau" angeht, und das, wo das Ausgabepreis dieser Aktie schon einen Tiefststand markierte: das Phänomen Fernsehen erfreute sich noch nie großer Wertschätzung. Gewissermaßen geht es seit dem ersten Sendetag bergab. Wobei - auch das war immer schon so und wird gleichzeitig doch immer schlimmer - die Quote sich sozusagen exponential umgekehrt proportional zum "Niveau" verhält: Sie ahnen es, ich spreche von der vergangenen Fernsehwoche mit den Millionär-Verheiratungs-Shows. Der Anteil der Freitag-Leser unter den insgesamt 15 Millionen Zuschauern der beiden Sendungen dürfte verschwindend gering sein, was die Medienkritikerin in die märtyrerhafte Position bringt, diese Tiefstpunkte der Fernsehunterhaltung stellvertretend erduldet zu haben. Denn eine Peinlichkeit kann sich der Kritiker stets ersparen: nie schaut er aus Neigung, stets erzwingt es die Profession. Wie eingangs angedeutet, brachte das nun Erlebte verdrängte Erinnerungen an früher vor dem Fernsehgerät Erlittenes an den Tag, was Anlass bietet, der Sache, dem wesenhaften Zusammenhang von Peinlichkeit und Fernsehen, einmal gründlich nachzugehen.
Wenden wir uns dem Begriff zu: Im etymologischen Wörterbuch des Akademie-Verlags findet sich zu "peinlich" der wertvolle Hinweis auf gerichtssprachlich "mit Folterschmerzen verbunden", was die "peinliche Frage" zu einer "Befragung unter Anwendung bzw. Androhung der Folter" macht. Auch wenn diese Bedeutungszusammenhänge aus dem 16. Jahrhundert stammen, lässt sich daraus doch ein sehr treffendes Bild des Fernsehzuschauers ableiten: Wie gefesselt sitzt er im Sessel; unfähig sich loszureißen, weil von unbekannten dunklen Mächten festgehalten, wird er gequält von Darbietungen und Zumutungen an seine Intelligenz, sein moralisches und ästhetisches Empfinden. Was genau hält ihn fest?
Da ist zum einen die dunkle Macht des Dabeiseinwollens. Darin koalieren die urmenschlichen Triebe der Neugier und des Gemeinschaftssinns. Will man sie denunzieren, sagt man Voyeurismus, will man sich ihrer bedienen, heißt es "Recht auf Information". Die zentrale Verheißung des Fernsehens ist sein Vermögen, "dabei zu sein", am Besten live natürlich. Alle, die die angekündigte Direktübertragung der Beckerschen Scheidungsverhandlungen aus menschlichen oder juristischen Gründen ablehnen, mögen Recht haben, aber: wie viele davon schauen dann trotzdem zu?
Was uns zum nächsten Punkt bringt: dem Forschergeist. Denn phänomenologisch betrachtet hat Peinlichkeit viel mit Entblößung zu tun. Woraus man schließen kann, dass die peinlichsten Sendungen oft die aufschlussreichsten sind, Enthüllungen ganz eigener Art sozusagen. In dieser Hinsicht sind Shows wie Ich heirate einen Millionär besonders reichhaltig, zeigte sich doch, dass die Gesellschaft insgesamt weniger modern, weniger emanzipiert und einfacher gestrickt ist, als sie von sich zu halten gewohnt ist. Ob junges Mädchen oder reife Frau, Mutter oder Dichterin, die Weiblichkeit sucht im Paarungsverhalten den schnöden materiellen Vorteil und schämt sich dessen kaum. Anhand so grundlegender Kulturtechniken wie "Ein Satz über sich selbst sagen", Discotanz, Bikinifigur, Horoskop und "Witzige Antwort geben" beurteilt, freuen sich die, die in die nächste Runde kommen und haben nie gedacht, "es so weit zu bringen". Die Männlichkeit wiederum beweist sich in der Entscheidungsfreude, innerhalb von Sekunden per Knopfdruck die Damen nach Rot (Ausgeschieden) und Grün (Noch dabei) sortieren zu können. Das Ganze sieht zwar nach archaischen Strukturen aus, entspricht aber eigentlich den neuesten Anforderungen. Schließlich sind wir alle aufgerufen, uns privat um unsere Rente zu kümmern. In dieser Hinsicht müsste man wahrscheinlich mal das Engagement der Privatsender mit ihren ganzen Millionenquiz- und -kupplungsshows als Beitrag zur Vermögensbildung ihrer Zuschauer würdigen.
Womit wir wieder beim Thema sind: Der nächste wesentliche Punkt in der Charakterstudie zur Peinlichkeit des Fernsehens lautet nämlich Positivität. Die drückt sich schon in der auf allen Lippen geführten Maxime "Dabei sein ist alles" aus. So brutal das Ausscheidungsverfahren, so grausam die Kriterien, so ungebrochen die Freude der Teilnehmer. Jeder Auftritt wird hier als Chance begriffen, und tatsächlich stellt sich immer wieder heraus, dass ein peinlicher Fernsehauftritt zum nächsten führen kann, mit dem sich dann schon richtig Geld verdienen lässt. Das absolute Einverstandensein der Teilnehmer, das den durchscheinenden schlechten Geschmack stets aufs Neue kaschiert, lässt jeden kritischen Impuls ins Leere greifen.
Dieses Einverstandensein stellt zugleich aber auch eine Bedrohung des Erfolgsrezeptes von Peinlichkeit und Fernsehen dar. Ist etwas zu glatt, zu professionell, erweist sich als zu gut gecastet, verliert es an Peinlichkeit und wird gleich weniger interessant. Der Vergleich von erster und zweiter Big-Brother-Staffel ist dafür der beste Beweis. Was uns zum nächsten Punkt bringt: Die Lust an der temporären Überschreitung. Die lauernde Erwartung, dass im nächsten Moment etwas nicht wie geplant abläuft, mithin peinlich wird, ist ein starker Reiz, auch noch die langweiligsten Sendungen bis zum Schluss zu verfolgen.
Endlich sei auch noch die Frage nach Authentizität und Fiktion von Peinlichkeit aufgeworfen. Landläufig gilt, der Zuschauer wolle immer mehr davon im Fernsehen, den wahren Menschen in seiner alltäglichen Pannenanfälligkeit also. "Normale" Menschen im Fernsehen haben nämlich per se etwas peinliches, daher ihre Attraktivität fürs Medium. Manchmal, selten genug, stellt sich jedoch heraus, dass die wahre Geschichte weniger peinlich ist als die Fiktionsanstrengung: Dass der eine der heiratswilligen Millionäre seine in der Show so mühevoll getestete Auserwählte schon vorher kannte, das Ganze quasi reine Inszenierung war, ist so gesehen ein Hoffnungsschimmer.
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