Der Kurzfilm hat ein Identitätsproblem. Er ist längst nicht mehr das, wofür man ihn hält. Seine klassische Form denken sich die meisten immer noch als Vorfilm vor dem Langfilm. Obwohl diese Praxis selbst für die Älteren nur noch eine verblichene Erinnerung ist. Die übergroße Mehrheit der Gäste und Besucher der Oberhausener Kurzfilmtage haben einem solchen Programm selbst nie beigewohnt. Und trotzdem hält sich diese Vorstellung hartnäckig in den Köpfen und geistert als Phantombild durch die Diskussionen, wenn auch ständig in der Vergangenheitsform. Denn wie gesagt: Diesen Kurzfilm, die "klassische Form" gibt es nicht mehr. Gestorben ist er vor so langer Zeit, dass er längst wiedergeboren wurde. Denn der Kurzfilm ist so lebendig wie nie. Wo man hinschaut, auf dem Handy, in der U-Bahn, überall gibt es Kurzfilme zu sehen. Vor allem natürlich da, wo sich das eigentlich wichtige Leben heutzutage abspielt: im Internet. Angefangen von den lästigen Pop-Up-Werbefilmen über die animierten Avatare der Blogger bis zu den Kompilationen und Autorenfilmchen von myspace.com und youtube.com ist das ganze Internet inzwischen eine einzige Vernetzung von Kurzfilmen.
Für tot erklärt, verwest und wiedergeboren in einer Form, die aus allen Ecken und Enden quillt, sich Räume erobert hat, die vorher gar nicht denkbar waren - damit könnte der Kurzfilm sehr vielen "sterbenden" Kulturformen ein Vorbild sein. Nicht zuletzt dem Musikvideo, das vielleicht eine Sonderform des Kurzfilms darstellt.
Es ist nämlich noch gar nicht so lange her, als die Einführung des MuVi-Preises, eine Auszeichnung für das beste deutsche Musikvideo, als Innovation der Oberhausener Kurzfilmtage gefeiert wurde. Was damals von einigen kritischen Stimmen als Umarmung eines Stücks Kommerzkultur gewertet wurde, erweist sich heute als gerade noch rechtzeitig erfolgte Hinwendung zu einem schwindenden Phänomen. Das Musikvideo in seiner klassischen Form nämlich liegt gerade im Sterben. Die Gründe dafür sind denkbar banal: die Musikindustrie wendet kein Geld mehr für die Produktion auf. Und wie das so oft der Fall im Popkultursektor ist, regelt keinesfalls die Nachfrage das Angebot, sondern umgekehrt. Die beiden Musikvideo-Programme, die in Oberhausen gezeigt wurden, unterteilt in die Sektionen "national" und "international" aber waren der beste Beleg dafür, dass die Dekadenz-Phase eines Kulturphänomens oft interessanter ist als seine Blütezeit. Während auch hier im Humus des Vergangenen eine Fülle neuer kleiner, unabhängiger Produzenten und Labels hervortreiben, sind die wenigen Hochglanz-Produkte, die noch teuer hergestellt werden, mit gebotener Melancholie zu betrachten.
So zum Beispiel Robbie Williams´ She´s Madonna-Video, das ein wunderbarer Abgesang auf das Genre und sich selbst darstellt: Ganz im Stil des sogenannten Zusatzmaterials, mit dem man DVDs heutzutage "aufwertet", zeigt sich Williams zu Beginn im Interview. Allerdings trägt er eine schwarze Damenperücke mit Pagenschnitt und ein tiefausgeschnittenes Kleid, das seine behaarte Brust bestens zur Geltung bringt. Mit traurigem Ernst spricht er von seinen multiplen Persönlichkeiten. Seinen Song gibt er dann auf der Varieté-Bühne eines Transvestiten-Clubs zum Besten, vor einem größtenteils unaufmerksamen, skeptischem Publikum von Männern in Frauenkleidern, zu denen der große Entertainer trotz souveränen Auftritts nicht ganz durchzudringen vermag. Am Ende antwortet er wieder in schwarzer Damenperücke einem unsichtbaren Interviewer. Was er zu sich selbst sagen würde, so von einer der multiplen Persönlichkeiten zur anderen? "Du bist ein guter Junge. Aber sing lauter!"
Wehmütig-selbstironisch verhandelt Robbie Williams in seinem Video ein Problem, dass der Popsong mit dem Kurzfilm gemeinsam hat: Er hat nur wenig Zeit, um für die Aufmerksamkeit des Publikums zu werben. Fünf bis neun Kurzfilme werden in einem Wettbewerbsprogramm in Oberhausen zusammengestellt; jedes Mal kommt das einer Reise um den Globus gleich, von Österreich über Finnland nach Indien, von Animation über Experiment bis zu Kurzgeschichte und Minidokumentation. Langeweile kann da kaum aufkommen, aber es wird zunehmend schwieriger bei all der Diversität noch das Einzelne zu erkennen.
Im Museum ist das anders. Dort muss nicht um Aufmerksamkeit gebuhlt werden, dort ist sie gesetzt, in Stein gefasst. Mit den Unterschieden von cineastischer und musealer Wahrnehmung beschäftigte sich die thematische Nebenreihe "Kinomuseum" in Oberhausen, und bot dabei den interessierten Zuschauern Erlebnisse der besonderen Art.
Zum Beispiel so: Zwei verschmitzte Kuratoren kündigen unter dem Titel Zeichentrick ein Experiment an. Sie wüssten selbst nicht, wie es ausgeht. Wer gehen wolle, solle sich frei fühlen, der Wiedereintritt werde für die nächsten 102 Minuten jedoch nur alle zehn Minuten gestattet, um nicht zu viel Unruhe zu erzeugen. 102 Minuten - das ist die Laufzeit des Films Casablanca. Doch wer sich nach den Titeln und der eingeblendeten Landkarte zu Beginn darauf freute, den "richtigen" Film zu sehen, wurde bass enttäuscht. Statt des verrauchten Interieurs von Rick´s Café erschien ein Kritzelbild auf der Leinwand. Und blieb und blieb und veränderte sich nicht, während aus den Lautsprechern im Kino in Originallänge die Tonspur des wohl berühmtesten Films der westlichen Hemisphäre zu hören war.
Das Kritzelbild setzte sich aus zwei einsetztenden und wieder abrechenden, sich dabei immer wieder kreuzenden Linien zusammen, die eine rot, die andere blau. Es handelte sich um die Nachzeichnung der Bewegungen der jeweils rechten Hände von Humphrey Bogart und Ingrid Bergman.
Fast hört es sich nach Bestrafung an: Im Kino zu sitzen und keine bewegten Bilder sehen zu können, sondern nur ein einziges unbewegtes. Trotzdem verließ nur etwa ein Viertel der Zuschauer vorzeitig den Kinosaal. Diejenigen, die blieben, hatten sich hinterher dafür um so mehr zu erzählen. Wie das Kritzelbild an der berühmten Stelle, wenn die Marseillaise gesungen wird, auf einmal in Weiß-Rot-Blau explodiert. Wie sich überhaupt so ein Bild verändert, wenn man es 102 Minuten unentwegt betrachtet. Oder auch, was man alles in einer Tonspur heraushört, wenn man den Film dazu nicht sieht. Wie man die so oft gehörten Sprüche wieder neu hört, und wie sehr die Bilder dazu sich eingeprägt haben, so dass man sie aus dem eigenen Filmlager im Kopf abrufen kann. Was sich anließ wie die langweiligsten 102 Minuten des Festivals wurde zur intensiven Reflektion über Erinnerung und Wahrnehmung. Nur Kleingeister fragen da noch, was das mit Kurzfilm zu tun habe.
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