Was Biografien bekannter Menschen angeht, funktioniert der Buchmarkt ganz anders als das Filmgeschäft. Enthüllungen aller Art, je skandalträchtiger desto besser, wirken hier verkaufsteigernd und sind oft Anlass dafür, dass ein Buch überhaupt wahrgenommen wird. Bei der Verfilmung solcher Autobiografien wird jedoch gern wieder ent-skandalisiert, ganz so als könne man der tumben Masse der Kinogänger nicht zumuten, was man dem elitären lesenden Publikum als Delikatesse offeriert. So porträtiert Kevin Kline im Film De-Lovely Cole Porter als "nicht wirklich schwul". Jamie Fox als Ray Charles in Ray gibt den Drogen-Junkie, der sich bestens im Griff hat. Und Johnny Depp als Schriftsteller J.M. Barrie in Wenn Träume fliegen lernen, Erfinder des aus englischsprachigen Kinderzimmern nicht weg zu denkenden Peter Pan, setzt sein Schauspieltalent vor allem dafür ein, ja keinen Verdacht auf Pädophilie aufkommen zu lassen.
Angesichts der historischen Tatsachen ist das gar nicht so einfach. Dass die innige Freundschaft zwischen einem erwachsenen Mann und fünf kleinen Jungs zu Beginn des letzten Jahrhunderts in den Augen der Zeitgenossen keinen Skandal erregte, erscheint heute kaum mehr nachvollziehbar. Die Davies-Jungs mussten in späteren Jahren immer wieder Auskunft geben darüber, welcher Natur ihre Beziehung zu Barrie gewesen war. Und obwohl sie stets auf der "Unschuld" des Verhältnisses bestanden, wird ihnen, den längst Verstorbenen, heute weniger geglaubt als damals. Angesichts der aufgeregten Reaktionen um das Thema ist man einerseits froh darüber, dass der Film ihm konsequent ausweicht. Johnny Depp hält in allen Szenen gewissermaßen einen Sicherheitsabstand zu den Kindern, und wenn er sie berührt, so tut er das stets mit betont asexueller Beherztheit. Andererseits gibt der Film mit diesem Vermeiden aller Zweideutigkeiten auch eines der Geheimnisse auf, das die Beschäftigung mit J.M. Barrie interessant macht.
Wenn Träume fliegen lernen erzählt mithin weniger das Leben des schwer einzuordnenden Sonderlings und Schriftstellers Barrie als vielmehr eine traurig-schöne Geschichte von Verlust, Trauer und Erwachsenwerden. Bereits über der fröhlichen ersten Begegnung von Barrie und den Davies-Jungs im Park weht ein gewisser melancholischer Hauch, jene Air von Nostalgie, die diese Freundschaft erst bedeutsam macht: Der Vater der Jungs ist vor kurzem verstorben, und weder sie noch ihre junge Mutter scheinen sich von diesem Schicksalsschlag schon ganz erholt zu haben.
Die Abweichung von den historischen Tatsachen - der Vater der Jungs war noch am Leben, als Barrie Freund der Familie wurde - ist erzähltechnisch so gelungen wie in der Intention verräterisch. Dass sich hier eine Witwe (Kate Winslet) und ein unglücklich verheirateter Mann begegnen, lenkt die Aufmerksamkeit auf den romantischen Aspekt dieser Konstellation, in der widrige Umstände das prinzipiell mögliche Zusammenkommen der beiden verhindern. Das Wenige an Erotik, das sich der Film leistet, wird gänzlich in dieser entsagungsvollen Beziehung untergebracht.
Liebestechnisch also an ein unerreichbares Objekt gebunden - die junge Witwe ist krank und wird außerdem von einer ihm feindlich gesinnten Mutter (Julie Christie) überwacht -, ist Johnny Depp in der Lage, frei als "Onkel Jim" aufzutreten, als liebevoller Ersatzvater, der den verwaisten Jungs das gibt, was sie brauchen. Seien es Verkleidungs- oder Geschicklichkeitsspiele, seine Freude daran speist sich aus dem bitteren Wissen um Vergänglichkeit. Das verleiht den Spielen und damit auch seinem Verhältnis zu den Jungs etwas Preziöses; sie spielen eben nicht um des reinen Wohlgefallens willen, sondern aus tieferen Gründen: um Trost zu finden, um an etwas festzuhalten, das verloren zu gehen droht.
Von Barrie heißt es, er habe nie erwachsen werden wollen wie seine Figur des Peter Pan. Weshalb nach letzterem auf dem Markt der Beziehungsberater ein bestimmter Männertypus benannt wurde. Marc Forsters Film dreht dieses allzu simple Psycho-Konzept von innen nach außen. Hier ist Barrie der gar nicht infantile Mentor altkluger Kinder, die er zur Kreativität ermuntert. Beide Seiten haben durch erlittene Verluste die "Unschuld" der Kindheit längst hinter sich gelassen. Barrie bringt ihnen etwas sehr Erwachsenes bei, nämlich die kindliche Phantasie nicht aufzugeben, sondern sie zu nutzen - als Medium etwa, um mit den Menschen, die uns verlassen haben, in Kontakt zu bleiben. Dass ihm das gelingt, zeigt der Film als Resultat seiner Fähigkeit zu Selbstironie, Zurückhaltung und respektvollem Umgang mit den Kindern, alles ganz und gar nicht "kindliche", sondern eher reife Eigenschaften.
Als Film über das Trauern ist Wenn Träume fliegen lernen ergreifend und klug; als biopic über J. M. Barrie ist er eher feige und oberflächlich. Dass er diese zwei Seiten hat, macht ihn allerdings sehenswert.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.