Neu sehen, wieder sehen

Ein Land im Kino-Boom Rückblick auf die Russische Filmwoche in Berlin

Russische Filme waren mal etwas Besonderes. Im Berlin der Perestrojkajahre drängten sich, wo auch immer Filme von Elem Klimow, Tengis Abuladse oder anderen halbwegs mit dem Leumund des kürzlich noch Verbotenen gezeigt wurden, regelrechte Menschenmassen. Einzelne Filme wurden wie Offenbarungen gefeiert, anderen brachte man ein enthusiastisches Interesse entgegen, das sowohl dem Kino als auch dem Land, das dort gezeigt wurde, galt. Es war wirklich etwas Besonderes.

Seither hat das öffentliche Interesse an Russland erheblich abgenommen, was traurigerweise wieder sowohl für das Land - wenn nicht gerade in Agentenmorde verstrickt - als auch seine Filme gilt. Das russische Kino hat seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion seine tiefste Existenzkrise durchlaufen, ist daraus aber in den letzten Jahren in neuer strahlender Gestalt auferstanden. Heute werden in Moskau wieder Kinos gebaut, und jährlich steigen die Produktions- und Zuschauerzahlen. Und in Berlin gibt es wieder "Russische Filmwochen". Sie sind nicht die einzigen ihrer Art, und müssen sich außerdem einreihen in den Kalender der französischen, italienischen und meinetwegen ungarischen Filmtage, die die Kulturinstitute der einzelnen Länder fördern. Aber irgendwie sind sie immer noch etwas Besonderes. Die diesjährige Film-Auswahl belegte das auf eindrucksvolle Weise: Auf den ersten Blick der Querschnitt eines normalen Produktionsjahrs, auf den zweiten erwiesen sich die Filme als symptomatisch in jeder Beziehung für den gegenwärtigen Stand einer sich noch immer im Umbruch befindenden Gesellschaft.

Unter den sieben ausgewählten Filmen waren drei Kriegsfilme - eine Zahl, die schon für sich spricht. Zwei davon spielten im Zweiten Weltkrieg, der dritte in der Gegenwart. Die "historischen" Filme vertraten die Tendenz des gegenwärtig in Russland populären "revisionistischen" Kriegsfilms, wobei "revisionistisch" nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als dass die einst sehr festgelegten Genredogmen über Gut und Böse gelockert werden. So darf in Franz und Polina, Regiedebüt des bisherigen Werbefilmers Michail Segal, der erwähnte Franz ein Deutscher sein, der die Seite wechselt, von der Wehrmacht zu den Partisanen, trotzdem trifft ihn am Ende die Kugel eines Rächers. Die eindrücklichste Szene des Films ist allerdings die allererste: Man sieht einen Haufen fröhlicher, junger Männer nackt in einem Fluss baden. Nichts erinnert an einen Kriegsfilm. Dann aber, auf einen Ruf hin, schwimmen alle ans Ufer und kleiden sich an - binnen weniger Sekunden ist aus der fröhlichen Schar ein bedrohlicher Trupp Soldaten geworden. Auf welcher Seite sie stehen, daran lassen sie bald keinen Zweifel mehr.

Dem anderen überkommenen Kriegsfeindbild nahm sich Erfolgsregisseur Alexander Rogoschkin in Peregon (Transit) an: Der Film spielt auf einem kleinen Flughafen im hintersten Nordosten, ganz nah schon bei Alaska. Von dort überführen die Amerikaner ausrangierte Jagdflugzeuge an die sowjetischen Alliierten, die sie aus dem Osten wieder an die Front im Westen fliegen. Als Piloten setzt die amerikanische Seite ausschließlich Frauen ein, zum großen Amüsement der Sowjets. Der Regisseur lässt auf diese Weise weitab von den zentralen Kampfschauplätzen Begegnungen der sonst unmöglichen Art stattfinden. Obwohl auch hier am Ende die tragischen Töne die komödiantischen überlagern, erscheint Peregon wie eine in die Vergangenheit verlegte Utopie, die den Kalten Krieg zum bloßen Hirngespinst erklärt. Wenn die jungen Sowjets besser Englisch gekonnt hätten, wäre die Völkerfreundschaft nicht aufzuhalten gewesen.

Der dritte Kriegsfilm, Zhivoj (Am Leben), schließlich handelt vom aktuellen, dem in Tschetschenien. Besser gesagt von seinen Folgen: Der junge Kir kommt in die Heimat zurück. Er war freiwillig in den Krieg gezogen, für eine nicht unerhebliche Bezahlung. Die stößt ihm nun bitter auf, weil einige Kameraden ihr Leben ließen, wo er nur ein Bein verlor. Als Gespenster folgen sie ihm beim vergeblichen Versuch, zu Hause wieder Fuß zu fassen. Am Ende wird Kir selbst zum Gespenst. Der Film behandelt die üblichen Themen des Heimkehrerdramas: die Traumatisierung, die Schuldgefühle, die Schwierigkeit, sich ins Zivilleben wieder einzupassen. Das in Berlin anwesende Publikum, zum größten Teil Exilrussen, machte er allein dadurch betroffen, dass er den aktuellen Konflikt überhaupt aufgriff. Und doch fiel er in einem entscheidenden Punkt hinter das zurück, was die erwähnten "revisionistischen" Filme gerade überwunden hatten: der Gegner und seine Kriegsopfer, die Tschetschenen, sie sind hier ein weiteres Mal gesichtslos, völlig ausgeblendet.

"Bumer" ist ein neurussisches Slangwort für einen BMW, die, wie es so heißt: "angesagteste" Marke unter jungen Russen heutzutage. Bumer hieß denn auch einer der ersten großen Kassenerfolge des neuen russischen Kinowunders. Als Genrefilm, der von jugendlichen Gangstern auf der Flucht handelte, schaffte der Film es auf keine internationalen Festivals und erhielt auch keine Preise. Für die große Filmgeschichte wird man ihn dereinst wiederentdecken müssen als tragisch-melancholische Gangsterballade in der Nachfolge von Jean-Pierre Melvilles Vier im Roten Kreis: Obwohl durch und durch Genre bildete Bumer das Lebensgefühl einer Generation ab, die sich ins Verbrechertum förmlich gezwungen fühlte. Der zweite Teil greift diese Moral noch einmal auf und zeigt erneut zwei junge Menschen beim vergeblichen Versuch, im heutigen Russland eine Perspektive jenseits der Kriminalität zu finden. In rauen, atmosphärischen Bildern übt der Film eine Konsumkritik, wie sie überraschenderweise wieder bestens zum Erbe der einst so besonderen russischen Filme passt: Eine echte Perspektive eröffnet sich für seine Helden nämlich erst, als sie auf den Besitz eines "Bumers" keinen Wert mehr legen.


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