Wir waren seit langem mal wieder nachmittags ins Kino gegangen, Kerstin und ich. Das Besondere am nachmittags ins Kino Gehen ist, dass es draußen noch heller Tag ist, wenn man wieder heraus kommt. Der Tag fühlt sich dann wie gestohlen an, was ein gutes Gefühl ist. Es hat eine Zeit gegeben, in der dieses ergaunerte Vergnügen mit anschließendem endlosen Kaffeetrinken und über Filme Reden für uns fast so etwas wie Normalität darstellte. Aber das war nun schon wieder lange her und winkte uns wehmütig als überwundene Spätpubertät aus der Vergangenheit zu. Nun überlegten wir, wo wir am besten dieser Zeit noch ein bisschen nostalgisch nachhängen könnten. Um das Cubix am Alexanderplatz herum ist die Auswahl an einladenden Cafés nicht groß. Wie es der Zufall wollte, hatte ich aber gerade am Vorabend mit ganz anderen Menschen über den Fernsehturm gesprochen; wer wann zum letzten Mal oben war und ob überhaupt.
Jeder einigermaßen versierte Städtetourist kennt das: diesen Drang nach oben, zum Aussichtspunkt. Kaum in eine Stadt gekommen, möchte man, dass sie einem zu Füßen liegt. Es muss sich dabei um den urbanen Abklatsch jenes Gipfelfiebers handeln, das selbst eingefleischte Städter in echtem Gebirge überfällt. Bezeichnend ist, dass Einheimische diesen Hang zur Eroberer-Perspektive sehr viel schwächer verspüren und er auch vergeht, so bald man länger in der Stadt bleibt. Doch apropos Gipfelsturm. Es gab auch eine Zeit, in der Kerstin mit mir das "Everest"-Fieber teilte, was in diesem Fall ein Lesefieber war. Durch die Lektüre mitreißender Bergsteigerberichte hatten wir uns zwischen Hillary-Step und Basis-Lager IV einige Wochen fast heimisch gefühlt. Kurzum: Ich hatte leichtes Spiel, sie zu überreden. Und waren wir nicht auch schon gemeinsam oben gewesen, einige Jahre vor dem Mauerfall, als wir beide noch Neuankömmlinge waren in dieser Stadt?
Im Gegensatz zu damals gab es diesmal so gut wie keine Warteschlange an der Kasse, obwohl mich schon angesichts des kleinen Reisegrüppchens vor uns jene Nervosität überfiel, die ich aus dem realen Bergwandern kenne - ich gehöre zu denen, die unbedingt als Erste oben ankommen wollen. Im Express-Lift war es wie vor 15 Jahren: Mit humor-gestählter Routine schnurrt der Aufzugbegleiter Höhenangaben und Fahrtgeschwindigkeit herunter; und gerade, wenn man glaubt, nun geht ihm die Luft aus, ist man oben. Die aalglatte Freundlichkeit mit tourismusförderndem Rest an Berliner Rauheit könnte man für neokapitalistische Anpassung halten; ich meine mich aber zu erinnern, dass es früher ganz genau so klang.
Kaum oben angekommen, drängen wir wie hypnotisiert zur Fensterscheibe. Unter uns breitet sich die Stadt aus wie ein vertrautes Buch in fremder Schrift, die wir erst schrittweise entziffern müssen. Wirklich, als wären wir ABC-Schützen, buchstabieren wir uns gegenseitig laut die Zeichen vor, die wir erkennen: Da ist der Potsdamer Platz, das Brandenburger Tor, der Reichstag, das Deutsche Theater, die Hackeschen Höfe, die Prenzlauer Allee ...
Nein, wir waren doch nicht gemeinsam hier oben gewesen, sondern mit jeweils anderen Leuten, die wir ausnahmslos alle aus dem Auge verloren haben. Um so mehr kommt uns zu Bewusstsein, dass wir die Stadt selbst so sehr viel besser kennen als damals. Wo wir früher kaum Straßennamen wussten - im Osten -, fällt es uns heute leichter, die Stadtviertelstrukturen ausmachen als im ehemals so heimischen Kreuzberg. Soll dieser komische Häuserhaufen dahinten etwa das Kottbusser Tor sein?
Und weil wir uns so gar nicht losreißen können von diesem Ausblick, setzen wir uns doch noch einen Stock höher ins sich drehende Café, das mit Teppichboden und Tischlämpchen genau das richtige Interieur bietet für unseren Ausflug, der immer mehr zur Zeitreise wird. Weiter haben wir den Blick stur nach draußen auf die Stadt und ihre vielen Punkte gerichtet. Was jedem Besucher schon längst langweilig wäre - für uns hat es einen ungeahnten Reiz. Im Wiedererkennen des Bekannten vollziehen wir die hier verbrachte Zeit nach. Eigentlich, so wissen wir nun, müsste man statt der Besucher aus fremden Städten viel mehr die alten Berliner Freunde hier hinauf mitnehmen.
Während wir wieder und wieder die Zeichen lesen - Greifswalder Straße, Ostbahnhof, Jannowitz-Brücke, - versinkt die Stadt im Dunkel und verändert ganz allmählich ihr Aussehen. Ein bisschen so, als ob sich ein Positiv-Bild ins Negativ umdreht. Die Straßen werden zu Leuchtbahnen, die Häuser zur schwarzen Masse mit einzelnen Tupfern drauf. Dahinten, der helle Streifen, das muss doch die Sonnenallee sein? Aber was ist die noch längere Lichtbahn daneben? Ein paar Stellen gibt es, die müssen wir beschämt offen lassen. Übers Kino haben wir erst viel später geredet.
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