Ein Ort will sich üblicherweise mit seinen Veranstaltungen schmücken und identifizieren. Als Austragungsort des Festivals des osteuropäischen Films zeigt die Stadt Cottbus in mancherlei Hinsicht jedoch eine eher traurige Übereinstimmung mit der akuten Krise des Kinos in den betreffenden Ländern. Jahr für Jahr wird ein Kinoneubau als Festivalstandort versprochen und Jahr für Jahr öffnet stattdessen wieder das alte stillgelegte "Weltspiegel"-Kino für fünf Tage seine Türen. Darin befindet sich ein Saal mit aus der Mode gekommenen Bestuhlung und dem süßen Flair der Erinnerung: Hier ist schon viel passiert. Angesichts verschlissener Polster, blätternden Putzes und einer angegrauten Leinwand überfällt den Festivalgast unweigerlich die bange Vermutung, dass auf die bewegte Vergangenheit nun keine große Zukunft mehr folgt. Und schnell hofft man, dass das Schicksal des osteuropäischen Kinos darin nicht dem des "Weltspiegel" ähneln möge. Mit diesem wehmütigen Charme des Altgedienten können die provisorischen Kinosäle im Jugendzentrum Glad-house, in denen die Nebenreihen des Festivals gezeigt werden, nicht konkurrieren. Aber auch sie passen auf ihre Weise sehr gut ins Bild, spielen doch die Gegenwartsfilme aus Osteuropa im nicht enden wollenden Provisorium einer Übergangszeit, deren Ziel man aus dem Auge zu verlieren droht. Immer wieder schweift der Blick deshalb sehnsüchtig in die Ferne - auf der Leinwand meist gen Westen, in Cottbus konkret gen Südwesten, hin zum Multiplexkino, in dem eine Auswahl der Festivalfilme gezeigt wird, das aber für das Gros der Festivalgäste wegen schlechter Verkehrsanbindung ein schwer zu erreichender Mythos bleibt.
Mit den Cottbusser Kinosälen hat man so die drei wesentlichen Themen des osteuropäische Kinos von heute zusammen: Da ist zum einen die Nostalgie nach der Vergangenheit, da gibt es zum anderen das resigniert-pragmatische Einrichten im Übergangsstadium und zum Dritten schließlich die schwer zu stillende Sehnsucht nach den westlichen Konsum- und Wohlstandsverhältnissen.
Tapfer versucht das Cottbusser Festival nun Jahr um Jahr, sich von der Krise des osteuropäischen Kinos nicht anstecken zu lassen, den schlechten Verhältnissen hier wie dort etwas entgegen zu setzen, Zuversicht zu verbreiten und neue Besucherrekorde zu vermelden. Immer mehr Raum nimmt dabei die "Eventgestaltung" ein, mit der auch große Namen nach Cottbus gelockt werden sollen. Doch auch wenn als Eröffnungsfilm Roman Polanskis Klavierspieler gezeigt wird, die eigentliche Attraktion des Festivals bleibt doch die Gelegenheit, Filme zu sehen, die selbst in besseren Zeiten nur in Ausnahmefällen den Weg in unsere Kinos finden werden.
Ein Film wie Kukuschka/Der Kuckuck von Aleksandr Rogoschkin, in der Nebenreihe Spektrum gezeigt, wäre vielleicht zu Perestrojkazeiten noch bei uns in den Verleih gekommen, heute hat er dazu kaum mehr eine Chance. Was schade ist, denn Rogoschkins kleine pazifistische Komödie verbirgt unter ihrer gefälligen Oberfläche einen großen Ernst und eine tief empfundene Verachtung für (je)den Krieg. In seinem Film lässt er im Jahr 1944 einen russischen Soldaten und einen finnischen Scharfschützen im warmen Zelt einer Lappländerin zusammentreffen. Zu Anfang versucht der Finne noch, sich durch Verweise auf den gemeinsamen Bildungskanon verständlich zu machen: Mit "Tolstoi - Krieg und Frieden" will er dem Russen auf Finnisch erklären, dass für ihn nun "Frieden" sei. Doch der Russe beschimpft ihn weiter als "Fritz" und "Faschist", woraufhin der Finne mit "Dostoevskij - Idiot" kontert und noch einmal neu ansetzt: "Hemingway - A farewell to arms"! Doch der Russe scheint den Originaltitel nicht zu kennen. So reden sie den ganzen Film über aneinander vorbei: Der Russe russisch, der Finne finnisch und die Lappländerin samisch. Wo sich sonst der auf Untertitel angewiesene Zuschauer stets im Nachteil fühlt, wird er hier in eine privilegierte Position versetzt: Nur dem lesenden Publikum entschlüsselt sich der feinsinnige Humor in den sich absurd kreuzenden Dialogen. Kukuschka handelt auf diese Weise nicht nur vom Abschied von den Waffen, sondern auch von den elementaren Grundlagen menschlicher Verständigung, die von der Sprache oft mehr gestört als befördert wird. Dass dieser Film, in dem keine der drei Figuren (wunderbar verkörpert von Anni-Christina Juuso, Ville Haapasalo und Viktor Bychkov) die Sprache des anderen versteht, mit dem Dialog-Preis für interkulturelle Verständigung ausgezeichnet wurde, ist ein schönes Paradox, das hoffentlich dazu beiträgt, dass manche Verleiher über das Wesen der Untertitelung - üblicherweise ein Hinderungsgrund für Kino- und Fernsehauswertung - neu nachdenken.
In dieser Hinsicht bereitete der ungarische Wettbewerbsbeitrag Hukkle keinerlei Schwierigkeiten: Er funktioniert ganz ohne Worte; an ihre Stelle treten Geräusche. Einem Dokumentarfilm ähnlich schneidet der Film lauter kleine Augenblicke eines Lebens auf dem Land zusammen: Den Schluckauf eines alten Mannes, die Zahnräder einer Maschine, das Treiben von Katzen und Insekten, die Zubereitung von Speisen und Getränken. Wo zuerst kein Zusammenhang zu erkennen ist, kristallisiert sich langsam eine vertrackte Krimi-Geschichte heraus, bei der man sich nie ganz sicher ist, ob man das, was man sieht, auch richtig versteht. So weckt Hukkle ungeheuer die Schaulust, was das Publikum in Cottbus mit seinem Preis zu honorieren wusste.
Zu den interessantesten Reihen des Festivals gehören die "nationalen Hits", also die heimische Kassenschlager, denen es ab und zu noch gelingt, mehr Besucher in die Kinos bringen als manch amerikanische Durchschnittsproduktion. Immer wieder lässt sich hier das spannende Verhältnis besichtigen, in dem populäre Genre-Formen mit nationalen Besonderheiten ergänzt werden. Kurioserweise eignen sich diese für den eigenen Markt konzipierten Publikumsfilme, obwohl sie sich der weltweit gängigen Rezepte bedienen, oft am wenigsten zur internationalen Auswertung. Wie zum Beispiel Wiedzmin/ Der Hexer, die polnische Antwort auf den Herr der Ringe - ein sorgfältig und aufwändig gestalteter Fantasythriller, dessen Pathos vom Cottbusser Publikum mit besonders genüsslichem Lachen quittiert wurde.
Nicht ganz so "kultig" konnte der ungarische Hit Valami Amerika/Fast Amerika aufgenommen werden, eine flotte Großstadtkomödie, in der drei Brüder und ihre Liebe zum transatlantischen Kontinent porträtiert werden. Ein Betrüger macht sich deren "blinde" Verehrung zu Nutze, doch am Ende finden sie zu sich selbst zurück. Dass es in Osteuropa eine Art Fetischisierung des Westens gibt, stellt der Rumäne Cristian Mungiu in seiner Komödie Occident schon im Titel heraus. Hierbleiben oder Weggehen, auf diese vermeintliche Schicksalsfrage des besseren Lebens werden die Figuren laufend gestoßen, wobei auch Mungiu klarmacht, dass die Träume vom Westen oft nichts mit dessen Realität zu tun haben.
Auf andere Art vor den Kopf gestoßen wurde der Zuschauer in Cottbus durch den russischen Film Vojna/Der Krieg, der als Hommage an den kürzlich verstorbenen Jungstar des russischen Kinos, Sergej Bodrov jr. gezeigt wurde. Dem deutschen Zuschauer vielleicht als der Gefangene im Kaukasus unter der Regie seines gleichnamigen Vaters ein Begriff, verkörperte Bodrov in Russland tatsächlich so etwas wie die Hoffnung auf die Wiedergeburt eines eigenständigen, massenwirksamen Kinos. Mit der Titelrolle in den Filmen Brat/Der Bruder, 1 und 2, von Regisseur Aleksej Balabanov ist Bodrov über die Grenzen Russlands hinaus bekannt geworden. Beim Dreh zu seiner zweiten Regie-Arbeit ist er mitsamt seiner Filmcrew am 20. September diesen Jahres von einer Lawine verschüttet worden - noch hat man die Leichname nicht geborgen.
Von Brat 1 zu Brat 2 war bereits zu beobachten, wie sich Regisseur Balabanov vom künstlerisch ambitionierten Filmemacher zum populären Manipulator wandelte, der es mit zynischem Geschick versteht, dem unterschwelligen Rassismus und den Gewalt- und Rachegelüsten der russischen Gesellschaft in seinen Filmen Befriedigung zu verschaffen. In seinem neuesten Film Der Krieg erzählt Balabanov nun seine Version des Tschetschenienkonflikts. Gerade der Gefangenschaft entkommen, kehren ein Brite und ein Russe gemeinsam zurück, um hinterlassene Geiseln zu befreien. In einer Dramaturgie, die so verlogen wie berechnend ist, werden die Tschetschenen ausnahmslos als ehrlose Schlächter gezeigt, die dazu noch zu dumm sind, um den Unterschied von Pfund und Dollars zu kennen. Der Brite entpuppt sich als mediengeiler Opportunist und die staatliche Gerichtsbarkeit als korrupt, weil sie am Ende den russischen Rambo vors Kriegsgericht bringt. Gut weg kommen im Film außer der jugendlichen Hauptfigur eigentlich nur Teile des russischen Militärs als Hort wahrer männlicher Kameradschaft.
Mit diesem populistischen Machwerk Sergej Bodrov ehren zu wollen, kann nicht der Ernst der Veranstalter gewesen sein; dass sie ihm fälschlicherweise im Katalog und anderen Programmheften die Hauptrolle zuschreiben - dabei ist Bodrov nur in einer kleineren Nebenrolle zu sehen - spricht allerdings dafür, dass der Film in der Vorbereitung nicht wirklich gesichtet wurde. Ein schwerwiegender Fauxpas - und eine verschenkte Chance, hätte es sich doch gerade angesichts der aktuellen Ereignisse angeboten, kontrovers zu diskutieren.
Das tschechische Kino mit seinem Fokus auf kleine Leute und kleine Milieus war dagegen dem deutschen Markt schon seit jeher verständlicher und kompatibler. Divoké vc?ely/ Wilde Bienen von Bohdan Sláma, der den Hauptpreis des diesjährigen Festivals erhielt, setzt in frischer und zugleich bewährter Weise fort, was vor vielen Jahren die tschechische Nouvelle Vague begonnen hat: Mit verblüffender Beweglichkeit verfolgt die Kamera einen kleinstädtischen Zusammenhang, in dem der grüne Pfefferminzlikör eine verbindende Rolle spielt. Auch hier träumt man vom Weggehen, bleibt aber, anders als im rumänischen Occident, am Ende doch besser da.
Was in einem Land nicht ganz so schwer fallen kann, das so wunderbare Folkrockbands und Liedermacherlegenden besitzt, wie sie Petr Zelenka in seinem "Mockumentary", also der parodistischen Version eines Dokumentarfilms, Rok Dábla porträtiert. Die Gruppe C?echomor und den Liedermacher Jaromir Nohavica gibt es wirklich, die teils dokumentarischen und teils gespielten Aufnahmen montierte Zelenka jedoch zu absurden Verwicklungen und hanebüchenen Zuspitzungen, die jeder Erzähllogik spotten. Herausgekommen ist eine leichthändige Abhandlung über Alkoholismus und Spiritualität, über Freundschaft, Musik und Altern, die so spezifisch tschechisch wie zugleich europäisch-universell erscheint.
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