Piazza Grande

Locarneser Abende Catherine blickt zum Himmel und einige Köpfe um uns herum machen es ihr nach. Kaum eine Wolke zu entdecken, in welche Richtung man auch schaut. Für ...

Catherine blickt zum Himmel und einige Köpfe um uns herum machen es ihr nach. Kaum eine Wolke zu entdecken, in welche Richtung man auch schaut. Für uns heißt das, und wahrscheinlich auch für unsere Tischnachbarn: Heute Abend auf der Piazza wird es eine ungestörte Vorstellung geben.

Locarno dürfte das einzige Filmfestival der Welt sein, in dem das Wetter eine so entscheidende Rolle spielt. Denn ob es am Abend regnet oder nicht, ob nur ein paar Tropfen fallen, derer man sich mit entsprechender Kleidung und ein bisschen Durchhaltevermögen erwehren kann, oder ob ein donnerndes Gewitter einen regelrecht vom Platz jagt, das bewegt hier täglich bis zu 9.000 Menschen. So viel fasst die Piazza Grande, der zentrale Platz Locarnos, der sich in den Festivaltagen zum größten Freiluftkino Europas verwandelt. Weil es Abend für Abend so viele sind, gibt es für den Regenfall keine wirkliche Lösung, sondern nur eine Art Ausweichreglement: Regnet es vor Vorstellungsbeginn, wird die Filmvorführung in die Mehrzweckhalle verlegt. Da diese aber lediglich bis zu 5.000 Zuschauer fasst, muss man sich rechtzeitig anstellen, um noch einen Platz zu bekommen. Setzt der Regen irgendwann während der Vorstellung ein, wird der Film weitergespielt, aber zeitversetzt in der Mehrzweckhalle wiederholt. Was den Zuschauer vor schwere Entscheidungskonflikte stellt: Harre ich noch aus oder mache ich mich gleich auf zur Halle? Festivalveteranen erzählen an dieser Stelle gerne von den Filmen, die sie hier schon frierend unterm Schirm bis zum Ende durchgesessen haben. Catherine und ich sind im vergangenen Jahr einmal ständig zwischen den sich lichtenden Sitzreihen und den schützenden Arkaden am Rand des Platzes hin und hergerannt. Wir wollten unbedingt den Film zu Ende sehen. Zeitweise regnete es auch auf der Leinwand in Strömen. Beide haben wir an den Film nur noch eine sehr bruchstückhafte Erinnerung; allerdings eine um so leuchtendere an das Erlebnis selbst. Wie muss sich nur der Filmemacher gefühlt haben, der in der Erwartung angereist war, sein Werk einem zigtausendköpfigen Publikum zu präsentieren, und dann mit ansehen musste, wie die Filmvorstellung buchstäblich ins Wasser fiel?

In diesem Jahr erscheinen solche Sorgen wie düstere Erinnerungen aus grauer Vorzeit. Der anhaltend unbewölkte Himmel zieht seine eigenen Probleme nach sich: Der Andrang auf die Plätze ist so groß wie noch nie. Menschen ohne Anhang sind hier völlig aufgeschmissen; wer niemanden hat, der für ihn einen Platz freihält, muss bereits Stunden vor Vorstellungsbeginn Position beziehen - und kann sich nicht mehr von der Stelle rühren. Die ersten dieser meist mit viel Lesestoff und Proviant ausgestatteten Unverdrossenen haben sich bereits über die Piazza verteilt, als wir vom Café aufbrechen, um vor dem abendlichen Kino noch etwas essen zu gehen. Was nämlich noch erwähnt werden muss: Auf der Piazza herrscht eine strenge Klassentrennung zwischen Rot und Schwarz. Schwarz, das sind die Unterprivilegierten, die breite Masse; Rot, das sind diejenigen, für die die zentralen ersten fünfzig Sitzreihen reserviert bleiben. Weil es, wie bei Klassengesellschaften üblich, sehr viel mehr Unterprivilegierte als Privilegierte gibt, können die "Roten" (zu denen Journalisten nun mal gehören) sich mehr Zeit lassen.

Weshalb man sich zu dieser abendlichen Stunde die umliegenden Restaurants fast ausschließlich von "Roten" bevölkert vorstellen muss. So gegen Viertel vor neun kommt aber auch unter uns Privilegierten Unruhe auf. Es kommen die ersten Handy-Anrufe von treuen Freunden, die bereits vorgegangen sind, um Plätze frei zu halten. Hektisch wird nach der Rechnung verlangt, was gegen Neun immer aussichtsloser wird, weil die Kellner nicht alle Tische gleichzeitig abkassieren können. Einzelne, von erneuten Handy-Anrufen bedrängt, überschlagen grob, was ihren Anteil ausmacht und drücken das Geld dem Sitznachbarn in die Hände. Derart zum Kassenwart bestellt zu sein, ist ein zwiespältiges Vergnügen, weil sich immer wieder zeigt, dass der Hang zur heimlichen Großzügigkeit weniger weit verbreitet ist als der zum heimlichen Geiz - und der Letzte am Tisch für die Deckungslücke aufkommen muss. Antonio, dem auch wir unser Geld schliesslich dalassen, droht uns spöttisch, sich damit aus dem Staub zu machen.

Endlich sitzen wir auf den von Irene so tapfer verteidigten Plätzen und es beginnt der letzte Teil des Locarnesischen Abendrituals: Die Lichter gehen aus und ein von der Kamera verfolgter Scheinwerfer fährt die Sitzreihen entlang. Für zehn Minuten hat hier jeder die Chance, sich selbst einmal auf der grossen Leinwand zu erblicken. Die Einen verbergen sich hinterm Programmheft, die Anderen verziehen theatralisch das Gesicht. Immer mal wieder küsst sich jemand, was meist besonders honoriert wird. Gerade wenn man dieses Spiel endgültig satt hat, wandern Scheinwerfer und Kamera zur Turmuhr und es ist halb zehn. Der Film kann beginnen.

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