Reales zum Fürchten

Medientagebuch Die Geheimnisse des Übergangs von wahren Geschichten zu Fernsehserien

Sie gehören zu den Schrecken des Privatfernsehens, oft geschmäht und viel beachtet - fast jeder Fernsehzuschauer bleibt mal daran hängen - die sogenannten Real-Crime-Formate. In den Frühzeiten der Privaten waren das Sendungen, die die Polizei bei der Arbeit begleiteten, um möglichst nah und "ungeschminkt" die angeblich alltäglichen Verbrechen zu zeigen. Der aufgeklärte Zuschauer, der sich solch "niedrigen" Reizen nicht ergeben will, kennt diese Sendungen meist nur in ihrer fiktionalen Verzerrung. Es gibt ungezählte Spielfilme, die vorführen, wie sich ruchlose Reporter und quotengeile Fernsehjournalisten zum Ort des Verbrechens vordrängeln, ohne Rücksicht auf Opfer und Ermittlungen, nur um "live" berichten zu können. Der Übergang zur wohl beliebtesten Horrorvorstellung der Medienkritik, dass die Verbrechen von denjenigen, die darüber berichten, selbst verursacht und sogar verübt werden, ist fließend.

Als müssten sie diese Darstellungsklischees immer wieder aufs Neue widerlegen, geben sich die wahren Real-Crime-Formate betont seriös, harmlos und vor allem kooperierend mit Polizei und Gesellschaft. Ganz wie die Mutter dieses Formates in Deutschland, Aktenzeichen XY, wo man stets hervorhob, dass man über all die Schrecklichkeiten nur sprach, sprechen müsse, um die Täter zu fassen. In der Debatte um die Ansteckungsgefahren, die von Gewaltdarstellungen in den Medien ausgehen, nehmen die Real-Crime-Formate eine besondere Stellung ein: Ihre Wirkung gilt als unbestritten. Teilweise sind sie ja auf den Eingriff in die Wirklichkeit hin konzipiert (siehe Aktenzeichen XY); immer bergen sie die Gefahr, Nachahmungstäter zu inspirieren (und scheren sich verdächtig selten darum), vor allem aber versetzen sie in Angst. Allerdings weniger den - potentiellen - Täter, sondern den Zuschauer.

Mit der Ablösung der an psychologischer Motivsuche ausgerichteten Dramaturgie durch eine von der "harten" wissenschaftlichen Spurensuche inspirierten (siehe Freitag 22/03) haben sich auch die Real-Crime-Formate verändert. Wo einst mit Handkamera und Verfolgungsfahrten Actionszenen nachgestellt wurden, kleidet man sich heute ins Gewand der populärwissenschaftlichen Dokumentationen vom Discovery Channel: Eine sonore Erzählstimme aus dem Off verbindet die im Home-Video-Stil nachinszenierten "Doku-Szenen" mit den Aussagen von Experten, Polizisten und weiteren am Fall Beteiligten. Die Rede ist hier von der zur Zeit wohl erfolgreichsten dieser Serien, Medical Detectives - Geheimnisse der Gerichtsmedizin auf Vox.

Die Medical Detectives sind so etwas wie der böse Zwilling zu der vor vier Wochen an dieser Stelle beschriebenen Serie C.S.I. - Den Täter auf der Spur. Wo das fiktionale Format einen modern durchgestylten Film Noir ergibt, funktioniert die sich auf reale Ereignisse berufende Serie Medical Detectives als raffinierte Variante des althergebrachten Schauderromans, der da lehrt: Hüte dich! Was hier erzählt wird, kann dir morgen selbst zustoßen!

Eng verbunden wird das seltsame Doppelpack durch die deutsche Synchronstimme der Hauptfigur aus C.S.I., Gil Grissom. Eben noch die unangreifbare Autorität der Ermittler in Las Vegas, berichtet die gleiche Stimme im nächsten Moment für Medical Detectives aus dem Off: "Jim Reid und seine Frau Tanya lebten anscheinend ein perfektes Leben. Doch kurz nach der Geburt ihrer zweiten Tochter Megan Renee ..." Das ist die Standarderöffnung: Immer sind die Menschen ahnungslos, sehr oft gerade glücklich und manchmal vollkommen unschuldig - vor der Tat. Banal aber wirkungsvoll zwingt die Erzählung von der "18jährigen Joanna, die nach einem Abend mit Freunden in der Disco gut gelaunt nach Hause fuhr, als ..." den Zuschauer in die Identifikations-Perspektive. Dann kommt die Werbepause.

Wie bei C.S.I. geht es auch bei den Medical Detectives um die Heldentaten der Ballistiker, Chemiker und Reifenprofilexperten; um DNS-, Faser- und Blutspuren; um Täter, die durch eine seltene Insektenart im Dreck an den Schuhen überführt oder um Opfer, die anhand eines Jeansknopfes identifiziert werden. Nur dass es sich bei den Medical Detectives eben um reale Fälle handelt.

Der Kontrast von fiktional und real führt die jeweiligen Unzulänglichkeiten vor: Wo die Forschungen der Schauspieler-Ermittler stets zu einem den Zuschauer überzeugenden Ergebnis kommen, steht bei den echten Fällen nicht selten Expertenmeinung gegen Expertenmeinung. Ist die Fiktion am Ende, sobald der Täter überführt ist, muss der wahre Fall bis zum Gerichtsprozess erzählt werden (nur so kann der Schrecken des Realen einigermaßen im Zaum gehalten werden), wobei der deutsche Zuschauer wie nebenbei Erstaunliches aus dem amerikanischen Rechtswesen erfährt: etwa dass bei völlig gleicher Beweislage zwei Jurys zu entgegengesetzten Urteilen kommen können und mithin die eine Schwester eine lebenslange Gefängnisstrafe bekommt, während die andere frei gesprochen wird.

Damit die Serie nicht ganz in einem fremden Land spielt, lässt Vox in den Medical Detectives zwischendurch auch deutsche Gerichtsmediziner zu Wort kommen. Ganz offensichtlich mit dem Format weniger vertraut als ihre amerikanischen Kollegen wirken deren Aussagen oft eigentümlich langsam und irritierend sachlich.

Dass ihre Trockenheit den Erzählfluss stört, macht wiederum bewusst, wie sehr die Medical Detectives trotz all der echten Verbrechen Fiktion sind. Die Wirklichkeit wird in die immer gleiche Spannungskurve gebracht, von jeweils einer Werbepause unterbrochen; wer´s wirklich war, erfahren wir erst danach.

Aber nicht die fiktionale Überformung des Echten ist das Unangenehme bei den Medical Detectives, sondern dass sie nicht Fiktion genug sind: Kein Autor würde in so erschreckender Distanzlosigkeit Angehörige der Opfer, am Fall beteiligte Aufklärer, zu Unrecht Verurteilte und manchmal zur Würze auch noch die Täter selbst auftreten lassen. Die vorgebliche Sachlichkeit, mit der die Aussagen aneinander geschnitten werden, ist das Obszöne. Die "gerichtsmedizinisch" bedingte Ausblendung der Psychologie vereinfacht die Motive zusätzlich zur immer gleichen Heimtücke. Es ist zum Fürchten.

Medical Detectives - Geheimnisse der Gerichtsmedizin. Mittwochs 21.15 auf Vox

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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