Reden ist Silber

Berlinale 2007 Der Trend geht zum Schweigen, und der politische Anspruch des Filmfestivals wurde dieses Jahr blamiert wie nie

Der deutsche Film wird von depressiven Gestalten bevölkert, die auf einfachste Fragen keine Antwort wissen. "Hast du Hunger?" fragt in Maria Speths Madonnen eine Mutter ihr Kind. Das Kind schweigt. "Hast du einen neuen Job?" fragt in Christian Petzolds Yella der Exmann seine Exfrau. Sie antwortet nicht. "Kann ich dich zum Bahnhof fahren?" fragt derselbe Mann dieselbe Frau ein paar Szenen weiter und wieder zeigt die Kamera nur ein Gesicht ohne Worte. Als Zuschauer möchte man sie des öfteren schütteln, all diese verstockten Gestalten, denen es die Sprache vor der Kamera verschlagen hat. Um so mehr wenn sie dann wie Nina Hoss in Yella im nächsten Bild doch im Auto des Exmanns sitzen - der, wie vorauszusehen war, zwecks gemeinsamen Untergangs den Wagen von der Brücke in den Fluss steuert. Wer jetzt denkt, das sei zuviel verraten, kann beruhigt werden: Das ist keineswegs das Ende des Films, es ist der Anfang.

Das ausgiebige Schweigen im deutschen Film, vor allem in den Filmen der sogenannten Berliner Schule, zieht oft ein nicht minder ausgiebiges Reden nach sich. Regisseur Petzold verstärkt jedenfalls durch das Geben vieler kluger eloquenter Interviews den Eindruck, er lasse seine Figuren absichtlich wenig sagen, um hinterher selbst beim Reden besser zur Geltung zu kommen. Aber Scherz beiseite: Es verwunderte schon, dass ausgerechnet eine Berlinale-Jury unter dem Vorsitz des amerikanischen Drehbuchautors Paul Schrader in der Preisvergabe eine Vorliebe für wortkarge Filme an den Tag legte, stellte Schrader selbst doch mit The Walker einen total verquasselten Film außerhalb der Konkurrenz vor. Fast wie ein Akt der Selbstgeißelung erschien es da, dass nicht nur Nina Hoss für ihre stille Yella den silbernen Bären erhielt, sondern auch Julio Chavez für seinen nicht minder ausdrucksvoll schweigenden Anwalt im argentinischen Film El Otro. Dessen Regisseur bekam noch den Spezialpreis der Jury zugesprochen und lobte unbescheiden den Mut der Juroren, ein Kino wie das seine auszuzeichnen. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold scheint in der Sprache des internationalen Kinos zu heißen: Wenn im Film gequatscht wird, ist es Kommerzkino, wenn geschwiegen wird, ist es Kunst - oder zumindest Arthouse.

Es mutet deshalb wie ein gelungener Witz an, dass die "Berliner Schule" nach einer Stadt benannt ist, deren Einwohner für ihre "Schnauze" bekannt sind. Soll heißen: für die manchmal durchaus nervende Fähigkeit, zu allem und jedem ihren Senf dazuzugeben und das oft ungefragt, wie jeder erleben kann, der hier ins Taxi steigt. Die Personifizierung dieses Widerspruchs zwischen Realität und Fiktion aber ist tatsächlich der Nichtberliner Dieter Kosslick, seines Zeichens Berlinale-Direktor, der die Festivalberichterstattung mit hemmungslosem Schwadronnieren über dieses und jenes zu füllen weiß. Nach einer Haltung zu den Zensurvorgängen um den chinesischen Beitrag Lost in Beijing befragt, brachte er allerdings keinerlei Aussage von Substanz über die Lippen. So wünschte man sich von der Realität oft wieder in den deutschen Film zurückversetzt, wo statt haltlosem Gerede besonders gern auf den Windhauch im Baumwipfel oder einen rauschenden Busch geschnitten wird.

Wenn die diesjährige Berlinale also einen Trend anzeigte, dann den, dass das Schweigen mehr gilt als das Reden. Weshalb wohl auch die drei französischen Wettbewerbsbeiträge, die eigentlich zu den besten Filmen des Festivals gehörten, völlig leer ausgingen. Jacques Rivettes Balzac-Verfilmung Ne touchez pas la hache ist eine Hommage an das literarische Sprechen in seiner ganzen Künstlichkeit und Müßigkeit. Im Kontext der diesjährigen Berlinale gab es wohl kaum einen unzeitgemäßeren Film, was durchaus als Kompliment zu verstehen ist. Die einen mögen sich langweilen, andere aber können kaum genug davon kriegen, wie Jeanne Balibar und Guillaume Depardieu sich hier ein streng rhetorisches Liebesduell auf Leben und Tod liefern. Nur ein kleines bisschen weniger ausufernd war das Reden in André Techinés Film Les Témoins, der mit verblüffend leichter Hand von jenem Sommer, Herbst und Winter erzählt, in dem Aids zu einem unser aller Leben berührenden Faktor wurde. François Ozons Beitrag Angel schließlich war eigentlich gar kein französischer Film, weil durchweg mit britischen Schauspielern besetzt. Aber auch hier wurde das Gegenteil des schweigsamen Naturalismus gefeiert: Eine junge Frau schreibt sich mit Phantasie-Schundromanen zu Berühmtheit. Es geht um Künstlichkeit und Outriertheit und darum, wie das Aussprechen von Phantasien zur Realität werden kann, zumindest eine Zeitlang.

Den Preis für das beredsamste Schweigen hätte im Grunde Karl Markovics verdient, der in Stefan Ruzowitzkys Die Fälscher den Geldzinkerkönig Sally Sorowitsch spielt. Die Eröffnungssequenz zeigt ihn verstockt wortkarg in einem Casino in Monte Carlo unmittelbar nach Ende des zweiten Weltkriegs. Die tätowierte Nummer auf seinem Arm spricht für sich. Der Film, der die unglaubliche, aber wahre Geschichte einer Fälscherwerkstatt im KZ erzählt, zeigt die komplizierten Gründe für seinen stummen Trotz. Regisseur Ruzowitzky vermeidet geschickt die gängigen Fernseh-"KZ-Klischees". Unter anderem ist sein Umgang mit Sprache ein anderer als gewohnt: den Juden, die sich hier zum Geldfälscherunternehmen versammeln, hört man ihre Herkunft an der Mundart an. Weshalb der "Werkstattleiter" mit "Berliner Schnauze" die Tränen eines neu angekommen Häftlings kommentiert: "So jing et mir ooch, als ich zum ersten Mal wieder ne Druckerpresse sah. Erinnert dich daran, dass du ein Mensch bist." Und Markovics fasst irgendwann das Credo seiner Figur in die Worte: "Ich werd den Nazis nich den Gefallen tun, dass ich mich schäm, wenn ich überleb". Sein stoisches Gesicht am Ende aber bringt das Dilemma, angesichts so vieler Toter ein Überlebender zu sein, eindringlich auf den Punkt.

Der Publikumsliebling der Berlinale war dennoch unbestritten Marianne Faithfull als Irina Palm, auch das eine eher schweigsame Rolle, die allerdings eine der schönsten Dialoge des Festivals enthielt. Faithfull spielt eine Witwe, die auf der verzweifelten Suche nach einem Geldverdienst dem Schild "Hostessen gesucht" in einen Sex-Club folgt. Dort wird sie vom Besitzer gefragt, ob sie denn wisse, was Hostessen so täten. "Tee bringen, Geschirr wegräumen", antwortet sie. Ihr Gegenüber schüttelt melancholisch den Kopf: "Es ist ein Euphemismus. Wissen Sie was ein Euphemismus ist? Ich wusste es auch nicht ..." Spätestens da, versteht der Zuschauer, dass die beiden bald ein Paar werden und der Film nichts weiter will, als ein bisschen mit Tabus spielen, damit ihre Hauptfigur sich als unkonventionell und befreit in einer Umgebung von Kleingeistern und Spießern feiern kann.

In ähnlicher Weise wie Irina Palm mit der eigenen Gewagtheit kokettierte, liebäugelte so mancher Film im Wettbewerb mit dem eigenen politischen Engagement - was erheblich schwerer wiegt. Berlin würde gerne als das politischste aller großen Festival gelten, was allzu oft dazu führt, dass hier Filme wie Goodbye Bafana und Bordertown aufgeführt werden, die ihre guten Absichten plakativ vor sich hertragen, auf dass niemand das hohle Konzept dahinter entdecken kann. Bei Bordertown, in dem Jennifer Lopez eine engagierte Reporterin gibt, die Frauenmorde an der mexikanischen Grenze aufklären will, ist das dieses Jahr so gründlich misslungen, dass der Anspruch, politisches Engagement zu zeigen, nachhaltig Schaden genommen hat.

Politisch heikel ist selten das laute Engagement, sondern oft das leise Unterminieren vorherrschender Gesellschaftsbilder. Wie im chinesischen Lost in Beijing etwa,den die chinesische Zensur nicht ungeschnitten nach Berlin entlassen wollte und in dem das Politische das Private ist: Eine junge Frau wird von ihrem älteren Arbeitgeber geschwängert. Ihr Ehemann möchte zunächst Schadenersatz und auf jeden Fall die Abtreibung, dann aber wird ein lukrativer Deal daraus. Der arrivierte Chef ist bereit, viel Geld für ein Kind zu bezahlen. Dessen Geburt verändert dann allmählich und unumkehrbar alle Beziehungen des seltsamen Quartetts: die junge Ehe und die alte Ehe scheitern gleichermaßen und am Ende sind sie alle Lost in Beijing. Der Film war übrigens der einzige Beitrag einer Regisseurin im Wettbewerb.

Die Jury gab allerdings auch hier einmal mehr dem Naturalismus den Vorzug: ein anderer chinesischer Film, Tuyas Ehe, bekam den goldenen Bären. Der Konflikt ist jedoch strukturell der Gleiche wie in Lost in Beijing: die Marktverhältnisse durchkreuzen die menschlichen Beziehungen. Tuya muss sich scheiden lassen, weil sie allein mit ihrem invaliden Mann die Versorgung von Haus und Hof nicht mehr bewältigt. Ein neuer Ehemann wird gesucht, unter der Bedingung, dass der alte weiter mitversorgt wird. Der Film erzählt in attraktiven Bildern von den Härten des mongolischen Bauernlebens. Zum Teil funktioniert er wie eine romantische Komödie: je reicher die Freier, desto schlechter ihr Benehmen. Nur der lange missachtete ungelenke Nachbar hat wahre Gefühle. Über das Eigentliche wird allerdings nie gesprochen: über Tuyas Gefühle - jenseits der Fürsorglichkeit - zum alten Ehemann.

Einen wunderbaren Abschlusskommentar zum Verhältnis von Verborgen und Offensichtlich, von Reden und Schweigen bildete der Dokumentarfilm Blindsight, der den Publikumspreis des Panorama gewann. Hier geht es um eine Reihe blinder tibetanischer Kinder, die von einem berühmten blinden amerikanischen Bergsteiger und seiner sehenden Crew auf einen Neben-Gipfel des Mount Everest geführt werden. Der Film stellt in Vor- und Rückblenden die Beteiligten vor und dokumentiert in der Hauptsache doch die ständige Debatte während der Klettertour, in der die Erwachsenen unter sich verhandeln, was das Beste für die Kinder ist. Ob es nun wichtiger ist, den Gipfel zu erreichen oder das Gemeinschaftserlebnis zu bewahren, ob die Ego-Stärkung nach bestandenem Risiko mehr wiegt als der Schutz vor möglichen Lebensgefahren, das alles diskutieren die Verantwortlichen demokratisch, konsensorientiert und Aggressionen vermeidend aus. Ihre Tapferkeit am Berg muss man bewundern, ihr geschultes diplomatisches, ziviles Verhandeln nötigt dem Zuschauer den höchsten Respekt ab. So entpuppt sich ein Dokumentarfilm über Blinde als eine hervorragende Hommage an die zivilisatorische Kraft des Redens.


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