Noch vor einem Jahrzehnt war es ein Standardsatz in jedem sowjetischen Reiseführer: die Russen seien das "lesendste Volk der Welt", belegt wurde diese Aussage meist mit dem Hinweis auf die vielen Menschen in der Moskauer Metro, die auch das größte Gedränge nicht davon abhalten konnte, ein Buch aufzuschlagen. Ein Hinweis, wo man all die guten Bücher, die in den öffentlichen Verkehrsmitteln verschlungen wurden, hätte kaufen können, fehlte allerdings in den Reiseführern. Denn wie fast alles Populäre war auch Literatur zur Mangelware geworden und konnte dementsprechend nur abseits der offiziellen Handelswege erworben werden, was viel Jagdinstinkt und beträchtliches Insiderwissen erforderte.
Kein Wunder also, dass auch auf dem Gebiet der Literatur die langersehnte Liberalisierung des Marktes von großen Hoffnungen begleitet war, die allerdings in bittere Enttäuschung umschlugen. Endlich frei kaufen zu können, was man lesen will, kam für Viele einer Verheißung gleich und schien geradezu der Kern, das Wesen des gesamten Demokratisierungsprozesses zu sein. Was die Freigabe des Büchermarktes brachte, war jedoch der unwiederbringliche Niedergang des gesamten literarischen Systems in Russland durch umfassende Kommerzialisierung: Nichts und niemand gilt dort mehr das Gleiche wie zuvor. Sämtliche Geschmacks- und Wertehierarchien sind umgestoßen worden und sowohl die Leser, als auch die Kritiker und die Autoren müssen sich erst noch an die neuen Verhältnisse gewöhnen, in denen "Beliebtheit" - früher eine schillernde, unfassbare und quasi geheime Größe - nun in schnöden Auflagenzahlen berechnet wird.
Wie andernorts nur auf dem Gebiet der Popmusik zu beobachten, war diese Kommerzialisierung ein Vorgang, der sich vor aller Augen als eine Art Volksabstimmung und doch gleichsam ungewollt vollzog - an den Büchertischen-, ständen und -kiosken, die massenhaft überall da aufmachten, wo sich viele Menschen tummelten. Zu Beginn der neunziger Jahre wurde hier noch jene Literatur verkauft, die zuvor knapp gewesen war, die Bücher der Verfemten, Exilierten und Zensierten. Sehr schnell aber mischte sich darunter die Sorte von Literatur, die bislang weniger verboten als vielmehr schlichtweg im künstlerischen Regelwerk des sozialistischen Realismus nicht vorgesehen war: "Sex and Crime". So gab es in all den Buchauslagen an den Metrostationen, auf den Märkten und Haupteinkaufsstraßen immer weniger Nabokov oder Bulgakov und dafür immer mehr Bücher, die schon auf dem Umschlag andeuteten, dass sie weniger subtile, dafür aber stärkere Reize zu bieten hatten: wallendes Blondhaar, sich windende Frauenkörper vor Männerprofilen mit Schusswaffen-Silhouetten und dramatische Blutspuren warben - auch das ein neues Phänomen - um Leser, die unterhalten werden wollten.
Zu Beginn waren es vor allem Übersetzungen aus dem Amerikanischen, die diesen neuen Markt des "Sex and Crime" bestimmten. Erst Mitte der neunziger Jahre begann sich ein einheimischer Krimimarkt zu etablieren und das vorher schlecht angesehene Genre, geadelt durch seinen Beitrag im Kampf gegen kulturelle Überfremdung, wurde nun auch von der Literaturkritik zunehmend gewürdigt. Als dann mit Alexandra Marinina ein erster Auflagen-Star geboren war, der auch noch Übersetzungsrechte ins Ausland für teures Geld verkaufen konnte, benahm sich das Volk wie sonst nur seinen Sportstars gegenüber. "Für uns schreibt sie jetzt bestimmt nicht mehr", brachte eine Frau im Fernsehen ihre Sorge darüber zum Ausdruck, Marinina sei von einem zahlungskräftigeren Publikum abgeworben worden.
Das russische Krimi-Phänomen trägt ein weibliches Gesicht: Mit einer geschätzten Gesamtauflage von über 20 Millionen (bei 20 Romanen) führt Marinina noch immer die Statistik an, von der man nicht sicher sein kann, wie seriös sie ist. Dicht auf den Fersen folgt ihr Polina Daschkowa mit insgesamt 15 Millionen verkauften Exemplaren für bislang 9 Romane, der wiederum Tatjana Poljakowa, deren Bücher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden, Konkurrenz macht. So sehr die drei Damen dafür gelobt werden, sich stilistisch und kompositorisch vom üblichen Schund (als den man "Crime" immer noch empfindet) abzuheben, blieb es im übrigen doch wieder einem Mann vorbehalten, im Krimilager echte literarische Meriten zu erwerben: Dem unter dem Pseudonym B. Akunin veröffentlichenden Japanologen Grigori Tschchartischwili und seinen "historischen" Detektivgeschichten, von denen bereits zwei bei uns erschienen sind.
Die geschilderte Revolution an den Büchertischen wird meist mit den veränderten Realitäten in Russland in Verbindung gebracht. In welchem Genre ließe sich die "große kriminelle Revolution", wie der Zusammenbruch des Sozialismus und was danach kam von Ultrarechts und -links gerne bezeichnet wird, denn auch besser darstellen? Und auch im Westen deckt sich das aktuelle Russlandbild - Korruption, Gewalt, Mafia-Geschichten - genau mit dem, was den Grundstoff für Krimis bildet. Gerne wird zitiert, Marinina - die selbst 20 Jahre als Justizbeamtin bei der Miliz gearbeitet hat - schildere die Dinge, wie sie sind im neuen Russland, mit einem Unterschied: Bei ihr würden die Täter bestraft. Doch dieser leichtfertigen Gleichsetzung von Genrekonventionen und Wirklichkeiten muss widersprochen werden. Tatsächlich erfährt man aus den Romanen von Marinina und Daschkowa nur wenig über die real existierende Mafia, und noch weniger über reale Verbrechens-Motive und -Profile, um so mehr aber etwas über das Bild, das sich die russische Gesellschaft davon macht.
So sind Marinina und Daschkowa keine neuen Naturalisten der russischen Literatur, sondern vielleicht eher Pioniere eines Realismus, der noch zu lernen hat - eine Rolle, die die "Schundliteratur" immer gerne übernimmt. Sie beschreiben die "neuen" Lebenswege, den "neuen" Alltag, all das, was sich noch nicht in Archiven recherchieren, noch nicht anhand von Memoiren verifizieren lässt und was gerade erst in soziologische Daten einfließt, in stereotypen Rohformen. Nicht das "was" ihrer Erzählungen, die Mordfälle und die Verbrechersuche, ist deshalb interessant, sondern das "wie": Der Umgang mit den Figuren, der Ton, in dem geredet wird, welche Lebenswege den Figuren vorgeschrieben werden.
Gerade bei Alexandra Marinina, von der doch aufgrund ihrer beruflichen Vorbildung viel Einblick in die wahre Welt des Verbrechens erwartet wird, findet man davon erstaunlich wenig. Sie interessiere sich nicht für Verbrechen, sondern für Menschen, sagt sie selbst dazu. Die Fälle, die die zentrale Figur all ihrer Romane, die Kommissarin Anastasija Kamenskaja, aufzuklären hat, spielen sich in einer seltsam entrückten Welt ab, in der die grobschlächtigsten psychologischen Schemata regieren, während die unmittelbare familiäre und professionelle Umgebung der Hauptfigur von komplizierten Motivationen und ambivalenten Gefühlen bestimmt geschildert wird. So ist das "wirklichste" in den Marinina-Romanen die liebevoll und detailliert wiedergegebene Umgangssprache der Ermittler, ein trockenes, leicht zu Zynismen neigendes Idiom, in dem eine Atmosphäre der Menschlichkeit gefeiert wird, die sich gegen die grausigen Gewalttaten der "anderen" behauptet. Darin sind die Hauptpersonen bei Marinina ganz Sowjetmenschen geblieben: sie überleben durch Zusammenhalt und die Fähigkeit der Improvisation.
Mit der durchgehaltenen Linie zwischen "Normalität" und der Welt des Verbrechens hängt auch ein weniger erfreulicher Zug der Bücher Marininas zusammen: Wie im realen Leben wird diese Grenze nämlich behelfsmäßig oft vom ganz alltäglichen Rassismus markiert. Georgier, Aserbaidschaner, Armenier sind zwar selten die Haupttäter, aber in verdächtiger Stetigkeit stehen ihre exotischen Namen für das kriminelle Milieu, das für die zentralen Taten den Hintergrund abgibt.
Wenn man in Marinina aufgrund solcher Traditionslinien sozusagen eine Anhängerin der Vererbungstheorie ausmachen kann, so ist Daschkowa im Gegenteil dazu eine entschiedene Behavioristin. Ihre ausufernden Romane zeichnen sich dadurch aus, dass noch die kleinste Nebenfigur eine Jahre zurückreichende Biografie erhält. Ihre Sprache ist weit weniger vom warmen Umgangston eines Kollektivs geprägt, sondern kühler und distanzierter als bei Marinina. Ihr besonderer Realismus besteht darin, kaum einen Menschen ohne Vergangenheit zu schildern. In jedem Roman entwirft sie so einen neuen Kosmos, in dem sich die alte Sowjetunion und das heutige Russland begegnen. Täter wie Opfer erweisen sich als geprägt von früheren Konditionierungen, von desolaten Erziehungsheimen und unberechenbar verlaufenden Parteikarrieren.
Beliebt ist Daschkowa, weil in ihren Helden oft die Abziehbilder der wirklichen neuen Stars zu erkennen sind: die erfolgreiche Fernsehmoderatorin, der aufstrebende Musikproduzent, doch schließt ihr Panoramablick auch die neuen sozialen Ränder mit ein. Auch wenn sie ähnlich wie Marinina die Ermittler nur in Ausnahmefällen als korrupt zeichnet, so zeigt sie letztlich doch ganz anders als diese wenig Vertrauen auf die Justiz: die Täter kommen im showdown meist zu Tode.
Das mangelnde Zutrauen in die Rechtsprechung und den Hang zur Vergangenheit teilt sie mit Boris Akunin und dessen "historischen Detektivgeschichten", die an Popularität den "Damenkrimis" gerade den Rang abzulaufen drohen. Im Zentrum seiner bereits neun Romane umfassende Reihe steht die Figur des Erast Fandorin, der in der ersten Geschichte, die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts spielt, als kleiner Schreiberling der Moskauer Polizeibehörde vorgestellt wird, in den weiteren Fortsetzungen aber mit den verschiedensten Ämtern betraut wird und viele Reisen unternimmt.
Absichtsvoll hat Akunin seinen Fandorin als russischen Sherlock Homes gestylt, doch darin ist die Vielzahl an literarischen Anspielungen längst nicht erschöpft. Das Besondere der Reihe ist, dass jeder Band aus anderer Perspektive erzählt, mal handelt es sich um einen Roman in Tagebuchform, mal um einen Kammerdienerroman, mal um eine Briefcollage. In der wechselnden Umgebung behält Fandorin selbst aber stets seine stereotype Gestalt: Ein Dandy mit für sein jugendliches Alter erstaunlich weißen Koteletten.
Akunins Romane sind kunstvolle Pastiches, die man mit ihrer Vielzahl an Zitaten aus Welt- und Genreliteratur schon fast als Pop bezeichnen kann. Das zaristische Russland schildert er durchaus in historisch korrekter Form: Die zahnlose Justiz, die Reformunfähigkeit der Apparate und die großen gesellschaftlichen Gegensätze haben zwar auch aktuelle Relevanz; Akunin geht es jedoch weniger darum, in der Vergangenheit die Gegenwart zu kritisieren, als vielmehr um eine Utopie: Sein Fandorin ist nämlich das perfekte Gegenteil der typischen Helden der zeitgenössischen russischen Literatur, kein "überflüssiger Mensch", kein zwischen Herkunft und Aufgabe zerrissener Revolutionär, sondern ein weltmännisch gewandter Überlebenskünstler, der seinen Verstand gebraucht, damit das unerreichte Ideal - ein freies Individuum.
Die Bücher von Alexandra Marinina erscheinen im Argon-Verlag und als Fischer-Taschenbücher
Polina Daschkowas Romane erscheinen im Aufbau-Verlag.
Boris Akunins Bücher erscheinen als Aufbau-Taschenbücher.
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