Die Volksbühne zu Berlin hat als ihr bevorzugtes Mittel, den bürgerlichen Zuschauer zu verstören und aufzuschrecken, die Strapaze gewählt. Unvergessen sind etwa die langen Nibelungennächte, als die Aussicht auf ein Frühstück das Publikum bis ins Morgengrauen in den Sitzen halten sollte. Nach den etwas mehr als sechs Stunden, die der Zuschauer auf dem Gerüst der so genannten Neustadt verbringt, um Idiot nach Dostojewski zu sehen, erscheint die angekündigte Dauer von viereinhalb Stunden für Meister und Margarita wie eine Erholung, zumal man auf den angestammten Plätzen im Parkett sitzen darf.
Frank Castorfs Inszenierung des Bulgakowschen Romans Meister und Margarita hatte seine eigentliche Premiere bereits im Juni während der Wiener Festwochen. Damals hinterließ sie noch einen sympathisch rohen und unfertigen Eindruck (siehe Freitag Nr. 26). Nun, nicht ganz vier Wochen nach dem Idioten als zweite Castorf-Premiere nach Berlin geholt, wirkt sie auf einmal wie eine verspätete Vorstudie - nicht unbedingt, was den Stoff, sondern was die Bühnentechnik anbelangt. Die von Bert Neumann für die jüngsten Inszenierungen ins gesamte Innere der Volksbühne geholte Stadt, liegt hier noch als eine Art verkleinertes Modell hinter dem Kastenbau, in dem sich alles abspielt. Einblicke in diese "Stadt" bekommt der Zuschauer über die Videoleinwand. Dass man den Großteil des Gespielten nur auf diese Weise vermittelt, also abgefilmt zu sehen bekommt, auch daran hat die Aufführung des Idioten den Volksbühnenzuschauer so gewöhnt, dass er für die Szenen, in denen er die Schauspieler direkt vor seinen Augen agieren sieht - und sei´s auch hinter Plexiglaswänden, dafür Mikrofonverstärkt - schon dankbar ist.
Womit allerdings auch schon benannt wäre: Der Meister und Margarita enthält wieder all die bewährten Inszenierungstechniken, die das Volksbühnenspiel in den letzten Jahren so geprägt haben: Räume, in denen sich Schauspielerkörper drängeln. Der plötzliche Ausbruch einzelner Figuren von null auf hundert und wieder zurück. Das lakonisch sich steigernde Einschießen auf einzelne Sätze. Die Schmuddelexzesse. Eine Zeit lang war es stets Kartoffelsalat, mit dem die Bühne eingesaut wurde. In Meister und Margarita ist es ein Schlammbad, in dem sich zwei verrückte Dichter im Irrenhaus samt Pflegerin vergnügen. Als sie nur unvollständig abgeduscht in ihre Betten steigen, und sich der Schlamm über weiße Laken verteilt und ausbreitet, stöhnt im Publikum noch jemand verzweifelt auf. Dabei droht solch direkte Wirkung durch die Vermittlung per Video - das Geschehen spielt sich in geschlossenen, dem Zuschauer nicht einsichtigen Räumen ab - gerade verloren zu gehen.
Die "schwere" Literatur mit Video, Zerteilen und Zerdehnen von Szenen und Figuren auf dem Theater zu bewältigen, dieses Konzept führte bei den Castorfschen Dostojewski-Adaptionen zu Momenten, die dem Humor, dem scharfen Realitätssinn und den abgefahrenen Psychologien Dostojewskis genau entsprachen. Doch Bulgakow ist nicht Dostojewski. Der Roman Meister und Margarita war für gewisse Zeit ein Kultbuch, übrigens gerade deshalb, weil die landläufige Etikettierung als Stalinzeit-Parodie bei der Lektüre sich auflöst: Da treibt ein Teufel, der sich Monsieur Voland nennt, mit seltsamen Gefolge sein Unwesen in Moskau; sagt den einen den nahen Tod voraus, schickt andere unversehens nach Jalta und benutzt ein Varietetheater zur Täuschung des Publikums. Voland aber ist kein sympathischer Teufel, so lustig der Kater Behemot als sein Adjutant auch immer wirken mag. Und dann gibt es im Roman noch diese schwer einzuordnende Parallelhandlung, die nach Jerusalem führt, und zwar genau an jenem Tag, an dem der von Judas verratene Jesus Pontius Pilatus vorgeführt wird. Diesen kühnen Wechsel von Raum und Zeit zu bewältigen, fällt der Inszenierung denn auch fast zu leicht: Wir sehen einen Film. Martin Wuttke, der in der Moskau-Handlung des Stücks den Meister verkörpert, steht in "antikisierenden" Kostümen vor einer Kulisse, von der man sich nicht sicher sein kann, ob sie die Volksbühne nicht tatsächlich auf Gastspielen an Originalschauplätzen gedreht hat, so wie das an anderer Stelle mit Aufnahmen aus dem Moskau von heute der Fall ist. Anders als sonst hat das Zusammenspiel von Film und Theater hier auf einmal eine sich gegenseitig neutralisierende Wirkung: Die sperrige Zwischenhandlung von Bulgakows Roman wird durch die der Volksbühnen-Technik so nahe liegende Lösung fast banalisiert. Umgekehrt scheint die ansonsten oft geheimnisvolle Leinwand, die ihre Bildausschnitte wie spontan wählt, durch diese Filmvorführung entzaubert.
Zu Beginn der Inszenierung erkennt der Romanleser alles wieder: Die zwei Dichter Besdomnyj (Milan Peschel) und Berlioz (Joachim Tomaschewsky) sitzen bei den Patriarchenteichen in einer Bar. Der geheimnisvolle Voland (Henry Hübchen) kommt und mischt sich mit der kühnen Behauptung in die Diskussion, er sei dabei gewesen, als Jesus verurteilt wurde. Annuschka hat das Öl bereits verschüttet, dann kommt Berlioz unter die Räder. Besdomnyj verliert den Verstand und landet im Irrenhaus, wo er den Meister kennen lernt. Margarita wird von Voland zum Hexenball gebeten; ihren Flug über Moskau zeigt uns das Theater wieder als Filmtrick, den man so allerdings in keinem Kino mehr durchgehen lassen würde; im Theater wurde anerkennend applaudiert. Am Ende steht dann das kleine Glück des Paares Meister und Margarita in der Einraumwohnung mit Kochstelle; sie macht ihm eine Büchse Bohnen auf. Vom Kultbuch ist nicht viel übrig geblieben.
Von der Verdrehung von Werk und Realität will das handeln, von der Schwierigkeit des Glaubens an Wirklichkeiten außerhalb des Alltags. Was man sieht, ist dagegen vor allem der gewöhnliche Volksbühnen-Alltag: Männer in Bademänteln, die in allen Lagen immer wieder klägliche Figuren abgeben und sich lustvoll exhibitionistisch ihren Regressionen überlassen. Immer mehr wird die Castorf-Bühne zum Jungsparadies. Die drei Frauen in der Inszenierung, in so klassischen Rollen wie Muse (Katrin Angerer), Krankenschwester (Joy Kristin Lau) und Gespielin (Irina Potapenko), haben es in dieser schmutzig-gemütlichen, ach so verspielten Männerwelt schwer, ihren Figuren Gewicht, geschweige denn Bedeutung zu verleihen.
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