Schule des Blicks

IM KINO "De grote Vakantie" von Johan van der Keuken zeigt die vermeintlich letzte Reise des Dokumentaristen

Konfrontiert mit der Aussicht, nur noch sehr begrenzte Zeit zu leben - was würden Sie tun? Wenn Sie es frei bestimmen könnten, wahrscheinlich dasselbe, was Johan van der Keuken in seinem Film Die großen Ferien am eigenen Beispiel dokumentiert: Das, was Sie schon immer am liebsten getan haben. In van der Keukens Fall ist es das Reisen mit der Kamera. Es ist zugleich sein Beruf, schließlich ist er Dokumentarfilmer. Dieser an sich beneidenswerte Einklang von Neigung und Profession wird nun durch die Nachricht vom zurückgekehrten Krebsgeschwür irritiert. Noch bevor van der Keuken von seiner Erkrankung und dem Vorhaben des Films erzählt, führt eine kleine Sequenz in diesen Irritationszustand ein: Zwei Porzellantassen ineinandergestapelt, die obere schwingt wie die angestoßene Unruhe einer Uhr und erzeugt dabei eine Art scheppernde minimal music, deren Frequenz sich stetig zum Verklingen hin verlangsamt. Ein wahrhaft beunruhigendes Geräusch, mahnend und launisch zugleich.

Den Verlauf einer Krebserkrankung mitsamt den Stationen der verschiedenen Ärzte und ihren teils hilflosen, teils abseitigen Heilungsversuchen hat zuletzt auch Nanni Moretti in seinem Caro diario dokumentarisch geschildert. Bei Moretti wurde daraus eine Farce über das italienische Gesundheitssystem. Da das Erzählte aber Moretti leibhaftig widerfahren war, konnte man nicht wirklich darüber lachen. Man war froh, dass der Regisseur am Schluss überlebt hat. Auch van der Keuken findet im dokumentierten Verlauf seines Films eine Medizin, die so gut anschlägt, dass die von der Krankheit gesetzte Begrenzung seines Lebens am Ende aufgehoben scheint. Vom glücklichen Ausgang her lacht es sich leichter über eine Szene, die ungefähr in der Mitte der Großen Ferien steht: Van der Keukens Kamera ist auf Professor Blattermann gerichtet, mit dem er über Methoden und Aussischten verschiedenen Behandlungen spricht. Herr Blattermann ist ein freundlicher Mensch, der seinem Patienten gegenüber trotzdem ehrlich sein will. Nicht ohne Scham gibt er zu, dass er wahrscheinlich länger zu leben habe als sein Patient, doch sei dies letztlich nur ein relativer Unterschied. Aus dem Off hört man van der Keuken erzählen, dass er für dieses Filmprojekt schnelle finanzielle Unterstützung von diversen Fernsehstationen erhalten habe, die von seinem Zustand wüssten. Wenn er also zu lange überlebe, würde man ihn wahrscheinlich fragen, was er hier noch wolle. Er hoffe, dass es so komme, antwortet verlegen der freundliche Arzt.

So steht also der drohende Tod am Ausgangspunkt dieses Filmes, aber keineswegs legt sich sein Schatten über das Erzählte. Die geschilderte Szene ist symptomatisch für van der Keukens Dokumentarstil. Er hält die Kamera frontal auf die Gesichter und bleibt doch zurückhaltend, erzählt Persönliches, ohne je indiskret zu werden. Deshalb sind Die großen Ferien auch alles andere als eine Krankheitsgeschichte. Nie geht es van der Keuken um die eigene Befindlichkeit, seine Neugier ist immer auf seine Umgebung gerichtet. Und es ist eine wahre Schule des Blicks, die er hier bietet.

In der typischen Reflexionsbewegung eines Menschen, der im Angesicht des nahen Endes die Dinge bewusst erleben will, steht am Anfang des Films der Gedanke, an seiner Lieblingstätigkeit, dem Reisen mit der Kamera, die Seiten zu betonen, die sonst weniger auftauchen. Die langen Fahrten in verschiedenen Fahrzeugen über mehr oder weniger schlechte Straßen, endlose Blicke aus Auto-, Bus- und Flugzeugfenstern, mal verregnet, mal staubig. Das immer ähnliche Design der Flughäfen dieser Welt, mit ihren Laufbändern, Schaltern und Monitoren, die wackelnden Tabletts voll abgegessenem Müll, der schwankende Kaffee in den Plastiktassen. Ankommen und in vertraute Gesichter sehen, oder in fremde.

Irgendwann sagt van der Keuken, dass er die Aufzählung als Form liebe. Und man erkennt, wie oft er tatsächlich in Aufzählungen erzählt: die Motorroller fahrenden Frauen in Afrika, die Postkartenansichten des Zenklosters, seine Sammelgegenstände zu Hause. Manche sind versteckt, andere als Form so präsent, dass sie eine eigenständige Komposition ergeben, wie die furiose Sequenz in Burkina Faso, in der lauter Kinder verschiedenen Alters vor seine Kamera treten und ihren Namen sagen. Die Reihung der Blicke dieser Kinder, des jeweiligen Tonfalls, in dem sie frech, schüchtern, triumphierend oder zögernd Auskunft darüber geben, wie sie genannt werden, bewirkt das Gegenteil von dem, was man von Aufzählungen erwartet. Nicht die Ähnlichkeit fällt ins Auge, sondern die kleinen Unterschiede. Sofort ist man verführt, über den merkwürdigen Status des Eigennamens zu philosophieren. Aber jedes Schlüsse-ziehen überlässt der Regisseur ganz dem Zuschauer. Denn er zeigt nicht durch seine Kamera auf etwas, er versucht, direkt zu sehen. Es bietet sich die Möglichkeit, in Ruhe zu betrachten, quasi vorurteilslos.

Und das, obwohl van der Keukens Kamera emphatisch subjektiv ist. Er klammert sich an sie, wie an seinen letzten Lebensfaden. Als er irgendwo öffentlich einen Preis entgegen nimmt, betritt er mit vorgehaltener Kamera die Bühne und wird vom Moderator lachend als sehr hartnäckig beschimpft. Nie tritt er selber in Erscheinung. Der drohende Verlust der Möglichkeit zu filmen ist ihm ein Ansporn noch intensiver zu blicken, noch insistierender zu beobachten. Fast verschwindet er dahinter und der Zuschauer mit ihm, so sehr sind wir ins Betrachten versunken.

Denn das dokumentarische Filmen bietet die fast magische Möglichkeit, zugleich an einem Ort und doch wie nicht anwesend zu sein. Ohne Kamera wären viele Blicke in diesem Film nicht möglich, wie zum Beispiel der langsame, mehrminütige Zoom auf einen meditierenden Mönch. Jeder Anwesende müsste sich dieses Starren verbieten. Aber als künstlerisches Verfahren gelingt van der Keuken, was sonst nur die Literatur vermag: die Welt durch die Augen eines Autoren vorzustellen, von dem sich der Leser nur reflektiv ein Bild machen kann. Van der Keuken wird sozusagen selbst zur Erzählfunktion.

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