Sean Penn hält eine Waffe in der Hand und steht auf dem Tresen einer Bar, seine erschreckten Trinkerfreunde in Schach haltend. »Ich kann mit einem Satz über Hochhäuser springen!« ruft er und stürzt sich durch die große Frontglasscheibe auf die Straße. In slow motion durchquert er das zerbrechende Glas, kommt mit ein paar blutigen Schrammen auf der anderen Seite an und versucht zu flüchten. Das ist, kurz bevor er in die geschlossene Anstalt eingeliefert wird. Sean Penn spielt Eddie Quinn, der in dieser Szene das hat, was man einen Anfall nennt. Seine Frau Maureen (gespielt von Seans Ehefrau Robin Wright Penn) hat es kommen sehen und die entsprechenden Stellen verständigt. Maureen und Eddie lieben sich sehr. Weshalb Eddie Maureens Aussage, er käme nach drei Monaten wieder raus, für die unumstößliche Wahrheit nimmt - obwohl sehr viel mehr Zeit vergeht, bis sie sich wiedersehen.
Die zehn Jahre, die es dauert, bis er als geheilt entlassen wird, bleiben in seiner Wahrnehmung die drei versprochenen Monate. Und noch immer verfügt er über genügend Größenwahn, diese seine subjektive Wahrheit gegen den objektiven Schein durchsetzen zu wollen. Der objektive Schein, das ist die Realität, in der inzwischen aus der ständig Whisky trinkenden Maureen mit blondstoppeligem Kurzhaar und viel Augen-Make-up die ungefärbte und fast ungeschminkte Mutter dreier Töchter an der Seite eines Bauunternehmer-Ehemanns (gespielt von John Travolta) geworden ist. Den äußeren Wandlungen zum Trotz hat die Zeit aber auch an ihrer Liebe zu Eddie nichts verändert.
Ein durchgehendes Thema in den Filmen des 1989 verstorbenen Regisseurs John Cassavetes war genau das: Die Verteidigung der inneren Wahrheiten gegen die äußerlichen Wahrscheinlichkeiten. Sein Sohn, Nick Cassavetes, hat mit Alles aus Liebe ein nachgelassenes Drehbuch von ihm verfilmt, und herausgekommen ist sozusagen ein Cassavetes-Film mit Verfremdungseffekt. Das heißt, wenn man die Filme des Vaters gesehen hat, kann man nicht anders, als diese zweite Regiearbeit des Sohnes aus einer merkwürdigen Doppelperspektive heraus zu betrachten. Ohne Wiederholungscharakter zu haben, bringt Alles aus Liebe viele vertraute Elemente aus den früheren Filmen in Erinnerung. Wie in Frau unter Einfluß geht es um »Verrücktheit«, wie in Love Streams um die pure flottierende Emotion als Zustand jenseits dessen, was man landläufig Beziehungsgeschichten nennt. Es gibt den für John Cassavetes so typischen Realismus des Redens: jede Figur spricht in der ihr eigenen Logik und stößt damit an die Grenzen der Verständlichkeit für andere. Gesagtes und Gezeigtes widersprechen sich in fast komödiantischer Form: John Travolta als Maureens Ehemann Joey erzählt dem wieder aufgetauchten Eddie, sie hätten gemeinsam das Rauchen aufgegeben - und hält ihm demonstrativ seine glimmende Zigarette vors Gesicht. So oft auch von Liebe die Rede ist, so oft fahren sich die Charaktere im nächsten Moment mit einem groben »Halt die Klappe« über den Mund. Und im größten emotionalen Durcheinander gibt es Aussprachen von einer entschiedenen Klarheit, die ganz besonders berührt. Wie jene, die die neunjährige Tochter einmal mit ihrem Ziehvater Joey und dann mit ihrem leiblichen Vater Eddie hat.
Doch all diese vertrauten Cassavetes-Elemente scheinen in der Regie des Sohnes merkwürdig entrückt. Was man nicht unbedingt als Mangel betrachten muß. Nick Cassavetes setzt in seiner Umsetzung des Drehbuchs nur sehr zurückhaltend eigene Akzente. Es ist alles ein bißchen farbiger im Setting, ein bißchen glatter im Schnitt als man es in Erinnerung hat. Diese Haltung zwischen Hommage und liebevollem Respekt dem großen Vorbild gegenüber kommt im übrigen ebenso in der Arbeit der Schauspieler zum Ausdruck. Auch wenn sie in Alles aus Liebe nicht ganz so »heimisch« wirken, wie Ben Gazzara, Peter Falk oder auch John Cassavetes selbst in seinen Filmen.
Wie diese, ist aber auch Alles aus Liebe ein Film, der einen in Gedanken weiterverfolgt. Und in der Nachbetrachtung ermöglicht die entrückende Verfremdung auf einmal etwas: eine Art abgekühlteren Blick auf das Dargestellte. So erweist sich der Drehbuchschreiber John Cassavetes als, modern gesprochen, Systemtheoretiker der psychologischen Tauschverhältnisse. Zwar ist Eddie derjenige, der als verrückt gilt, doch ist dies eine Rolle, die er im Gesamtzusammenhang sozusagen stellvertretend übernimmt, eine Art Liebesopfer. Maureens nicht weniger »irre« Sätze wandern in seinen Kopf. Als er zehn Jahre später kommt, um sie zu holen, wird er in dem Maße »normal«, in dem nun Maureens Ehemann Joey ins Schlingern gerät. Trotzdem ist Alles aus Liebe keine sezierende Analyse von Schuldzusammenhängen, vielmehr ein erschreckend vorurteilsloser Blick auf die »Liebe in ihrer übertriebensten Form«, wie dies der Regisseur selbst ausdrückt.
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