Die wohl am prominentesten besetzte Gerichtsshow fand letzten Sonntagabend zur besten Sendezeit statt: Vor "Richterin Sabine Christiansen" hatte sich Klaus Wowereit zu verantworten, Jörg Schönbohm gab den Geschädigten, während Angela Merkel, Hans-Jochen Vogel und eine Parteiforscherin als Zeugen auftraten. Verhandelt wurde die Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat. Dass es sich nicht etwa wie angekündigt um eine Diskussionsrunde, sondern um jenes berüchtigte neue Format der "Gerichtsshow" handeln musste, konnte der Zuschauer daran erkennen, dass hier endgültig niemand mehr dem anderen zuhörte - zur Erinnerung: eine Grundbedingung für Diskussion - und sich Funktionsträger in die Darstellung ihres Amtes dermaßen hineinsteigerten, dass sie von rampensüchtigen Schauspielern nicht mehr zu unterscheiden waren. Es fehlten zwar noch ein paar Utensilien - die Talare, der Richterhammer und Frau Christiansen die Möglichkeit, Ordnungsgeld zu verhängen für undiszipliniertes Zwischenrufen -, aber im Großen und Ganzen war die Atmosphäre der neuen nachmittäglichen Quotenrenner genau getroffen. Hier wie dort interessiert man sich allerdings herzlich wenig für das "Recht" und damit zusammenhängend für so etwas Pathetisches wie Wahrheit und Gerechtigkeit, dafür um so mehr für die effektvolle Darstellung von Einzelwahrheiten.
Die Gerichtsshows sind dabei, die Talk-Formate des Nachmittags abzulösen. Wer - angewidert von letzteren - diese Meldung der Medienseiten für eine gute Nachricht hält, muss sich im konkreten Augenschein eines Besseren belehren lassen: Es hat sich erstaunlich wenig verändert. Was vorher als "Problem" diskutiert wurde - Missbrauch, Drogensucht und anderes Fehlverhalten - wird nun als "Fall" verhandelt. Geblieben ist die Vorliebe für jene Mischung aus grausigen, schlüpfrigen und abstrusen Details, die es täglich auch in die Schlagzeilen der weniger seriösen Zeitungen und immer noch auf die "Vermischten Seiten" der seriöseren bringen. Eine Mutter lässt ihre zwei kleinen Kinder verdursten, während sie mit ihrem Liebhaber in den Urlaub fährt; ein Vater sperrt seinen heroinabhängigen Sohn gegen dessen Willen zum kalten Entzug tagelang ein; die erwachsene Tochter einer afrikanisch-stämmigen Familie will ihre kleine Schwester vor der Klitorisbeschneidung retten - das Mädchen kommt bei der hilflos organisierten Flucht ums Leben. Es sind Reiz-Themen, die Betroffenheit auslösen und zugleich den Voyeuristen im Zuschauer ansprechen. Wer nachmittags im Fernsehen Aufmunterung sucht, lässt den Apparat nach wie vor besser ausgeschaltet. Denn wie das so ist mit dem Anreiz des Sensationellen: nachdem man darauf angesprungen ist, hinterlässt es unweigerlich ein Gefühl von Niedergeschlagenheit.
Die zunehmende Popularität von Richterin Barbara Salesch und Richter Alexander Hold erklären sich nun manche damit, dass mit dem Urteilsspruch und seiner - Begründung endlich eine Form gefunden sei, die aufgeworfenen Problemfälle zu einem quasi-kathartischen Ende zu bringen. Wo vorher allenfalls ein Moderator gut zuredete oder Stellung bezog, also nichts wirklich Entscheidendes beizutragen hatte, bringt nun der Richterspruch Klarheit und Orientierung; am Ende wird gesagt, was rechtens war und was nicht. Darin liegt in der Tat das Potential dieser Sendungen; sie versprechen nichts weniger als die Grundlagen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zur Sprache, beziehungsweise ins Fernsehen zu bringen und den gemeinen Fernsehzuschauer mit dem vertraut zu machen, was die längste Zeit durch unverständliches Juristendeutsch und andere rituelle Techniken der Wahrung von Amtsgeheimnissen von ihm ferngehalten wurde.
Als wolle man also ein legitimes Informationsbedürfnis über unsere Justiz befriedigen, wird in den Gerichtsshows insbesondere auf Authentizität geachtet: Richter, Staatsanwalt und Verteidiger sind alle "echt", soll heißen, tatsächliche Vertreter ihres Berufsstandes. In anderem Sinne "authentisch" sind die Angeklagten, die Geschädigten und die Zeugen: Bei ihnen handelt es sich um gecastete Laien, die ihrem "Typ" nach besetzt werden. Mancher Zuschauer wird den einen oder anderen Talkshow-Gast wieder erkennen, auch hier sind die Ressourcen schließlich begrenzt. Um nun besonders "echt" zu wirken, werden die Laien ganz offensichtlich angewiesen, im Rahmen ihrer angelernten Rolle möglichst viel Spontaneität an den Tag zu legen, das heißt, ganz aus sich herauszugehen. Das hat zur Folge, dass die Verhandlungen meist sehr turbulent verlaufen, da sich die Darsteller vor allem beim Zwischenruf spontan vorkommen. Wie gesagt, es geht zu wie bei Christiansen.
Ein lustiger Nebeneffekt dieses Ringens um Authentizität ist, dass durch das lautstarke Agieren der unbescholtenen Laien auch die "echten" Berufsstandsvertreter in Zugzwang geraten und sich sichtlich ins Zeug legen. Manche haben ihren spezifisch hölzernen Juristencharme, der - obwohl im Grunde das Gegenteil von telegen - ihre Professionalität zum Ausdruck bringen soll, längst abgelegt zugunsten eines Rollenengagements, das auch vor karikaturhafter Zuspitzung nicht zurückschreckt. Bei Alexander Hold liefern sich zum Beispiel Staatsanwalt Sewarion Kirkitadse und Verteidiger Ingo Lenßen auf diese Weise Redegefechte, wie sie nur noch in altmodischen Gerichtsfilmen vorkommen. Zusehends gerät ihnen ihr Auftritt zur Fiktion: Der eine gibt den scharfen Hund von Ankläger, der schon mal gerne einen Beschuldigten moralisch zusammenstaucht, während der andere die Rolle des eitlen Exzentrikers übernimmt, der trotz gezwirbeltem Schnurrbart kämpferisch den Arm um seine Mandanten legt, egal wie dumm deren Ausreden sind.
Die stilgerecht verlesenen Urteile am Ende einer solchen Verhandlung kann man dann allerdings nicht mehr so recht ernst nehmen. Irgendwie hat vor lauter Bemühen um Authentizität auch hier einmal mehr die Inszenierung überhand genommen.
Turbulent am Nachmittag
Geschrieben von
Barbara Schweizerhof
Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)
Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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