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50 Jahre deutsches Fernsehen Macht Fernsehen glücklich?

Wahrscheinlich ist Fernsehen durchaus mit Schokoladengenuss zu vergleichen: Es gilt nicht unbedingt als nützlich, und ab einer bestimmten Konsummenge sogar als schädlich; besonders für junge Gemüter. Nicht jeder hat dieselbe innige Bindung daran, es werden Abhängigkeiten mit verschiedensten Dosierungen gepflegt; der eine macht sich mehr daraus, der andere weniger. Man kann für Wochen darauf verzichten, für Monate, wenn es sein muss, auch für ein paar Jahre. Aber für immer?

Für die subjektive Erfahrung, dass Schokolade glücklich macht, hat die Wissenschaft vor einiger Zeit endlich den Beweis geliefert: Schokolade begünstige die Ausschüttung eines "Glückshormons". Fürs Fernsehen bleibt sie solche Beweise bislang noch schuldig. Der Behauptung, dass Fernsehen glücklich mache, haftet nicht nur deshalb etwas Provokatives an. So unvorstellbar ein Leben ohne TV selbst für diejenigen ist, die keinen eigenen Fernseher im Haushalt haben, ist sein Ruf doch auch 50 Jahre nach dem Beginn der flächendeckenden Ausstrahlung in Deutschland nicht der beste. Anders ausgedrückt: Wenn übers Fernsehen geredet wird, dann in der Regel kritisch.

Fernsehen macht glücklich heißt nun vorgeblich völlig unkritisch die Ausstellung im Berliner Filmmuseum, die zum 50. Geburtstag des Mediums in Deutschland vergangene Woche eröffnet wurde. Die Ausstellungsmacher signalisieren damit, dass sie einen Weg jenseits der ausgetretenen Pfade der Medienkritik betreten wollen. Der Titel reizt zum Widerspruch, wie sich bereits an den ersten Eintragungen im Internet-Gästebuch ablesen lässt: Fernsehen mache nicht nur glücklich, sondern schlau, schreibt jemand, der sich dazu bekennt, gute 80 Prozent seines Wissens über die Welt aus der "Glotze" bezogen zu haben. Fernsehen sei die totale Beeinflussung und Gleichschaltung und beglücke allenfalls die Dummen, schreibt prompt der Zweite. Woher weiß er das? Vielleicht wiederum aus dem Fernsehen? Oder wie es bei einem bekannten Kabarettisten heißt: Wenn Fernsehen blöd mache, würde er das merken, schließlich sitze er jeden Tag davor.

Dass die seit dem Beginn der Fernsehausstrahlung Geborenen tatsächlich einen Großteil ihres Weltwissens aus dem Medium haben und noch beziehen, steht in schönem Widerspruch dazu, dass sich besonders bei dieser ersten mit dem Medium aufgewachsenen Generation, bei den heute 50-Jährigen, die "Essentials" linker Medienkritik am hartnäckigsten halten. Weit mehr noch als die Printmedien steht das Fernsehen im Verdacht, Agent der herrschenden Verhältnisse zu sein, sozusagen das moderne "Opium des Volkes", durch das die Massen in scheinbarer Zufriedenheit und objektiver Unwissenheit gehalten und von ihren eigentlichen, revolutionären Aufgaben abgelenkt werden. Angesichts der vorgegaukelten Realitäten auf dem Bildschirm vergesse das Subjekt die Kritikwürdigkeit seiner eigenen.

Ein beliebtes Beobachtungsprojekt engagierter Dokumentarfilmer war deshalb bis in die achtziger Jahre hinein das Verhalten ganzer Familien beim Fernsehverzicht. Belegt werden sollte stets, dass ohne TV-Gerät die Familienmitglieder wieder mehr miteinander kommunizieren und jeder einzelne sich einer kulturell wertvolleren Beschäftigung widmen würde. Der Beweis dieser vorgefassten Annahmen gelang den meisten dieser Abstinenz-Dokumentationen mühelos und auf Anhieb. Nur Bestand hatten diese Ergebnisse nie. Ob noch unter Beobachtung oder eben erst, wenn die Kamerateams wieder abgereist waren, stets kehrten die Probanden wieder zum Kommunikationsverhinderer Fernsehen zurück, hatten offensichtlich nach einiger Zeit genug miteinander geredet oder waren von den kulturell wertvolleren Tätigkeiten zu ermattet, um noch etwas anderes zu tun außer fern zu sehen. Es ist wie im übrigen modernen Leben auch: Um ihrem Bewegungsmangel abzuhelfen, gehen viele Menschen joggen und schaffen nicht das Auto ab, um fortan wieder alles zu Fuß zu laufen. Obwohl also die Gefahren des Fernsehkonsums allgemein bekannt sind - es führt zu Abstumpfung, Phantasielosigkeit und geistiger Trägheit genauso wie zu Aggression, Gewaltvisionen und allgemeiner Unruhe - kehrt die Zeit der Unschuld, als die Abende "sinnvoller" verbracht wurden, einfach nicht wieder.

Lange kursierte noch dieses Bild eines perfekten Familienabends aus der guten alten fernsehlosen Zeit: Kleine Kinder spielen mit Bauklötzen, größere sitzen artig mit einem "guten Buch" in den Händen auf dem Sofa, während Mutter in einer Ecke mit Handarbeit beschäftigt ist und Vater am Tisch seinem Ältesten Schach beibringt. Ob es solche Familienabende wirklich je gegeben hat, wird die Forschung wahrscheinlich erst im nächsten Jahrhundert wieder zweifelsfrei nachweisen können. Aber auch ohne solche Abziehbilder ist offensichtlich, wie prägend das Fernsehen das Alltagsleben in den letzten 50 Jahren verändert hat - bis tief in die Einrichtung der Wohnzimmer hinein. Eine Zeitlang noch wurde das Fernseh-Gerät in Möbelschränken versteckt, die suggerierten, dass man es nur bei Gelegenheit raushole, etwa so wie das gute Geschirr an Feiertagen. Für 2002 dagegen belegt die subjektive Beobachtung im Freundeskreis: Inzwischen steht das Gerät auch bei Wenigguckern völlig unverhüllt in der Königsposition des Wohnzimmers, direkt gegenüber dem bevorzugten Sofa beziehungsweise Sessel. Von dort ergibt sich oftmals der direkte Blickkontakt mit den amerikanischen Familien auf ihren Sofas in den so genannten Sitcoms. Es ist, als würde man durch das Gerät hindurch miteinander kommunizieren.

Ist heute der Umgang mit dem Medium also viel ungenierter und weniger von überkommenem Bildungsdünkel geprägt, hält sich demgegenüber doch mit überraschender Hartnäckigkeit landläufig die Meinung, früher sei das Programm an sich und einzelne Sendungen im Besonderen, schlichtweg das Fernsehen besser gewesen. Wie die jährliche Teuerungsrate wird auch hier festgestellt, dass es immer mehr Sex und mehr Gewalt und mehr Kommerz gäbe. Auch wenn konkrete Beispiele oft ausbleiben, die "gefühlte" Qualitätskurve weist beständig nach unten. Seit den grisseligen Schwarz-Weiß-Anfängen 1952 - ein einziger kontinuierlicher Niedergang. Wer jedoch die Gelegenheit nutzt, alte Ausschnitte zu betrachten, wie sie das Fernsehen selbst manchmal zusammenstellt, muss sich in dieser Beziehung schnell eines Besseren belehren lassen. Im Fernsehen wimmelte es zu allen Zeiten von Blödsinn. Von vielleicht und unter anderem auch glücklich machenden Blödsinn. Das lässt sich am Besten im ersten Raum der erwähnten Ausstellung in Berlin nachvollziehen: Auf 19 Monitoren werden dort jeweils fünf- bis fünfzehnminütige Zusammenstellungen quer durch die Jahrzehnte präsentiert, nach Themen geordnet wie: Kochen, Quiz, Gewinner, Show und Humor; und Ausschnitte aus der oft einfach weggelassenen Geschichte des DDR-Fernsehens sind auch dabei.

Ein wahres Spiegelkabinett tut sich hier auf, eine Zeitreise im Slalom durch nahe und fernere Vergangenheiten: Slatko verlässt im Triumph den Big Brother-Container; Steffi hält eine souveräne Siegesrede, in der sie sogar die geschlagene Martina Hingis tröstet; Professor Grzimek hat "auf vielfachen Wunsch" wieder den Geparden mitgebracht und Hans Rosenthal wälzt sich seine Kandidaten anfeuernd am Boden. Viele Gesichter sieht man, deren Namen einem nicht mehr einfallen und manche, die aus der Tiefe der Kindheit wiederhallen und ganz plötzlich milde stimmen: Camillo Felgen moderiert Spiel ohne Grenzen! Und so was hat man mal gerne gesehen! Menschen in riesigen Kängeruh-Kostümen, die sich mit den langen Füßen gegenseitig Bälle in den Beutel werfen! Die deutsche Stimme von Hoss Cartwright aus Bonanza hat man immer für die ureigene des Schauspielers gehalten und nie bemerkt, wie Synchronisation und Lippenbewegung auseinanderfallen. Und wer sich heute daran stört, dem muss es bei der deutschen Fassung der Zwei förmlich die Schuhe ausziehen, wo Roger Moore zu Tony Curtis sagt: "Du hast letzte Woche ja wieder was von dir gegeben, da hat jetzt einer ans ZDF geschrieben!"

Die Fernsehköche in Ost und West waren sich in den fünfziger Jahren - zumindest aus heutiger Sicht - verblüffend ähnlich, wohingegen selbst Hundefutter in der Gegenwart ansprechender zubereitet wird, als die panierten Steaks von damals. Während man so durch diesen Raum geht, und Dinge sieht, die man schon einmal gesehen hat und andere, die man immer schon mal sehen wollte, droht sich die ganze geübte Medienkritik in sentimentales Erinnern und glückliches Wiederfinden von verloren Geglaubtem aufzulösen. Wer einiges des hier Gezeigten aus der Kindheit kennt, wird nicht umhin können zu bemerken, wie intensiv man diese Sachen einst aufgenommen hat, mithin wie stark der Einfluss dieser Fernsehbilder war. Zugleich aber hatte man das alles längst gründlich wieder vergessen ...

Die Ausstellung im Berliner Filmmuseum ist ein erster Ansatz hin zu dem, was eine funktionierende Mediathek einmal leisten könnte. Denn diese, als "Museum für Fernsehen und Hörfunk", soll nach ihrem Scheitern als Vision und Konzept nun ganz pragmatisch doch noch entstehen. So ist es nur konsequent, dass die Kuratoren der Ausstellung bei der Frage, was ausgestellt werden sollte zum Thema 50 Jahre deutsches Fernsehen, sich ganz auf das ureigene Material des Fernsehens, nämlich die Sendungen, konzentriert haben, und keine karierten Jacketts einstiger Moderatorenstars oder Schreibtische, an denen sechs Journalisten aus fünf Ländern saßen, dazwischen gestellt wurden.

In den vergleichsweise bescheiden ausgestatteten Räumen - neben dem beschriebenen Raum Fernsehglück gibt es einen Saal mit Sternstunden aus fünf Jahrzehnten, also ausgesuchtem Qualitätsfernsehen, ein Saal ist der technischen Entwicklung der Geräte gewidmet, einer dem Kinderfernsehen und einer dem Pausenfernsehen - deutet sich an, welchen Gewinn eine Mediathek bringen würde: Erst die konsequente und selbstgewählte Wiederbegegnung mit dem Material, das einen einst so beeindruckte, macht möglich, Fernsehgeschichte auch kritisch nachzuvollziehen und damit die eigentliche Wirkungsmacht des Mediums zu überprüfen.

Anhand der Durchlässigkeit, mit der das Fernsehen in Ost wie West zeigte, was möglich war, werden sich noch viele Sittengeschichten der Nachkriegszeit schreiben lassen. Aber eben nicht nur als eine Geschichte permanenter Befreiung von Tabus: Manche Szenen lassen erahnen, dass in einigen Bereichen die Freiräume früher größer waren und im Gegenteil manches möglich war, was sich heute verbietet. Darüber, welchen Anteil ein Politiker-Rededuell im Fernsehen auf den Wahlausgang hat, gibt es wiederstreitende Vermutungen, in der Gesamtschau der Nebensächlichkeiten, aus denen das Fernsehen besteht, scheinen es aber besonders die Beiläufigkeiten zu sein, in denen es seine größte Macht entwickelt.

Fernsehen kann also glücklich machen, auf jeden Fall in der Erinnerung und der sentimentalen Wiederbegegnung. Es kann aber auch süchtig machen. Weshalb noch immer das Hauptthema in den Familien ist, wie ein vernünftiger Umgang damit aussehen könnte, wie man, wenn man einmal eingeschaltet hat, das Gerät wieder abschaltet. In dieser Hinsicht inspiriert die Ausstellung zu einer Haltung, wie sie parallel auch die Ernährungslehre als vernünftig propagiert: Es gilt, bei gemäßigtem Maßhalten einen genießerisch-lustvollen Umgang damit zu pflegen. Und darauf zu vertrauen, dass im Notfall das Wichtigste wiederholt wird.

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