Eines der Dinge, die auffallen, sowohl beim Karikaturenstreit als auch in der Debatte um den türkischen Film Das Tal der Wölfe, ist, wie schnell sich hinter einer scharfen Demarkationslinie ein diffuses "Wir" einem diffusen "anderen" gegenüberstellt. Im Westen ist man sich über nichts so behände einig wie über die Vorstellung eines feindlich gesonnenen Islam. Umgekehrt scheint es ähnlich: die Vorstellung des dekadenten, islamfeindlichen Westens eint die muslimische Welt. Vergeblich wünscht man sich das Privileg des Außenstehenden herbei, des neutralen Beobachters - von irgendeiner Warte aus ist man immer schon eingeteilt ins eigene oder ins fremde Lager. Da hilft nur noch der Blick in die Geschichte.
Es ist noch gar nicht so lange her, da beherrschten die Stereotypen des Kalten Krieges die populären Erzählungen und vor allem auch die Filme. "Kalt" war das Schlüsselwort, und kalt waren in den Darstellungen nicht nur die Städte und Landschaften im Feindesland Sowjetunion, sondern auch dessen Bewohner. Wo immer in westlichen Filmen sowjetische Menschen auftauchten, meistens natürlich in Genrefilmen wie Spionagethrillern und Actionspektakeln, erscheinen sie von einzelnen Ausnahmen abgesehen als berechnende, emotional extrem zurückhaltende, meist uniformierte und oft wie ferngesteuert agierende Menschen. Der Blick in die Filmgeschichte bringt so an den Tag: Derartige Feindbilder haben überraschend wenig mit den Gemeinten und dafür um so mehr mit den Ängsten der Verfasser zu tun. Dem eigenen nationalen Stereotyp der Russen nämlich könnte die "Kälte" kaum ferner liegen: Darin bekennen sie sich durchaus kokett zu ihrer "schirokaja duscha", der "breiten Seele", die große Warmherzigkeit, eine Neigung zum Schlendrian und zum Exzess einschließt. (Nun, auch der Wodkagläser an die Wand werfende Russe - in der Realität kaum bezeugt - war einst ein viel benutztes Klischee).
Es trifft sich gut, dass Sylvester Stallone, im Streit um den "türkischen Rambo-Film" Das Tal der Wölfe als Erfinder der Rambo-Figur gewissermaßen in aller Munde, Mitte der achtziger Jahre eine Art letzte Hommage an das Sowjet-Klischee des Kalten Krieges geliefert hat. In seinem Rocky IV lässt er die von ihm selbst gespielte Titelfigur gegen den sowjetischen Boxer Ivan Drago antreten. Dieser, verkörpert vom Schweden Dolph Lundgren, ist das sprichwörtliche Monster aus den Zuchtstätten des Sozlagers, ein hochgepäppeltes Muskelpaket mit wenig Hirn und noch weniger Gefühlen. Im ersten Boxkampf mit einem amerikanischen Profi schlägt Drago seinen Gegner prompt zu Tode und zeigt danach nicht mal Bedauern. Das ruft natürlich Rocky auf den Plan.
In der Trainingssequenz, die dem großen finalen Kampf vorangeht und in jedem Rocky-Film schmissig mit Musik unterlegt das Geschehen auf den Punkt bringt, werden die beiden Boxer schematisch, aber wirkungsvoll gegeneinander gehalten: Wir sehen Rocky durch den herrlichen Tiefschnee Sibiriens joggen, zwischendurch im Freien Holz hacken, unterwegs seinen netten pelzbemützten Nachbarn die Pferdekutsche aus der Schneewehe ziehen, Bäume fällen und Steine schleppen, kurz gesagt: ökologisch korrekt trainieren, schließlich schreiben wir das Jahr 85; die Grünen sitzen seit zwei Jahren im Bundestag.
Ganz anders dagegen Ivan Drago: In diverse Fitnessmaschinen eingezwängt, ständig unter Kontrolle einer Gruppe von finster blickenden Weißkitteln, die auf Monitoren seine "Werte" verfolgen, erscheint er als Maschinenmensch, der allenfalls in Nylon-Kleidung durch eine Halle joggt und, ja, am Ende eine dicke Spritze verabreicht bekommt. Dass der sowjetischen Seite hier so viel "technischer" Vorsprung eingeräumt wird, überrascht auf den ersten Blick; auf den zweiten erkennt man darin die lauernde Angst des Westen vor sich selbst: Die in Feindbild verwandelte Furcht vor der kalten, sich verselbständigenden Technik. Feindbilder sind eben immer auch Angstbilder.
Rocky IV ist übrigens weniger ein Kalter-Kriegs-Film als ein Perestroikafilm. Rocky selbst hält am Ende eine Rede, in dem er für Wandlung der Verhältnisse eintritt ("Ich habe mich verändert, ihr könnt das auch!"); man sieht eine Art Gorbatschow-Double heftig applaudieren und selbst der geschlagene Drago schaut am Ende beglückt und menschlich daher.
Stallones großes Talent beim Einsatz von Feindbildern belegen nicht zuletzt seine drei Rambo-Filme, an die dieser Tage im Zusammenhang mit dem türkischen Tal der Wölfe so oft erinnert wird. Allerdings ist hier zunächst eine Berichtigung am Platz: das auch von Menschen, die die Filme nie gesehen haben, benutzte Stereotyp "Rambo" ist um einiges gröber als die Filmfigur selbst. Der erste Rambo gehört zu den aufschlussreichsten Filmen über das amerikanische Vietnamkriegstrauma überhaupt, zumal er gar keine Kriegshandlungen in Vietnam zeigt, sondern ausschließlich in einer amerikanischen Kleinstadt spielt. Dort nämlich gerät der um einen Freund trauernde Veteran in Konflikt mit einem lokalen Polizisten, der ihn aus der Stadt treiben will. Ohne Grund verhaftet, geschlagen und misshandelt, werden in Rambo die alten Vietnaminstinkte wach; er flieht aus der Haft in die nahen Berge, der Polizist kann seine Niederlage nicht verwinden und verfolgt ihn mit schwerem Waffeneinsatz; der Kampf eskaliert. Der Film handelt von der Paranoia einer Gesellschaft, die ihre Kriegsbeteiligung verleugnen will. In der Schlussszene bricht Rambo psychisch zusammen. Schluchzend in den Armen seines ehemaligen Ausbilders liegend beichtet er seine schlimmsten Kriegserlebnisse.
Erst die beiden Sequels haben Rambo zu jener chauvinistischen Rächergestalt gemacht, als die er heute so oft zitiert wird. Im zweiten Teil geht es nach Vietnam zurück und im dritten nach Afghanistan und obwohl Rambo hier nie wieder zusammenbricht, lebt die Ambivalenz dieses Charakters doch immer fort: einerseits ist Rambo die unbesiegbare Kampfmaschine, andererseits geht es bei Stallone stets um den psychischen Terror, die eine solche Gestalt bei ihrem Tun erleidet. Rambo III ist übrigens im Nachspann den "gallant people of Afghanistan" gewidmet. Und der Film zeigt die Afghanen als stolzes Reitervolk mit alter Kultur, in der Religion eine eher untergeordnete Rolle spielt. Es ist ein fürs heutige Auge sehr ungewohntes Stereotyp. Der russische General, gegen den Rambo hier vor allem kämpft, hat dagegen einige Ähnlichkeit mit jenem amerikanischen Befehlshaber, der im türkischen Tal der Wölfe den zentralen Bösewicht spielt.
Die Zeit der großen Proteste war 1988, als Rambo III herauskam, allerdings schon vorbei. Zehn Jahre zuvor hatte Michael Ciminos Vietnam-Kriegsfilm Deer Hunter (Die durch die Hölle gehen) noch einen großen Skandal auf der Berlinale ausgelöst. Die Darstellung der Vietcong-Soldaten wurde von sowjetischer Seite für so skandalös befunden, dass die Delegation ihre Filme und Jurymitglieder zurückzog und abreiste, mit ihnen ein großer Teil des "sozialistischen Lagers". Deer Hunter gilt heute als Meisterwerk, trotzdem wird niemand bestreiten, dass die Vietcong-Soldaten, milde gesagt, hier sehr einseitig dargestellt werden. Um den Glauben an die Kunst zu bewahren, sind wir bereit, vom Stereotyp zu abstrahieren: Wir lesen nicht mehr Feindbild, sondern allgemeiner Kriegshorror.
So routiniert der Westen und seine auf Export eingestellte Kulturindustrie also mit Stereotypen umgehen und sie der jeweiligen Konjunktur anpassen, so wenig ist er daran gewöhnt, sich selbst als Stereotyp zu sehen. Das sowjetische Kino hat sich wenig mit dem Gegner befasst. Die Stelle des historischen Bösewichts wurde fast ausschließlich von den Nazis besetzt. Den westdeutschen Kinogängern wollte man interessanterweise unmittelbar nach dem Krieg eine Konfrontation mit solchen Stereotypen ersparen und schnitt aus so manchem amerikanischen Film die betreffenden Stellen einfach heraus; die Synchronisation wurde entsprechend umgeschrieben: Aus den NS-Spionen in Hitchcocks Notorious - Berüchtigt (1946) wurden auf diese Weise internationale Rauschgiftschmuggler, weshalb der Film auch unter dem Titel Weißes Gift erschien. Ähnlich unverfroren entfernte der deutsche Verleih aus Casablanca alle "Nazi-Szenen" und machte den tschechischen Widerstandskämpfer Laszlo zum norwegischen Atomphysiker Larssen, der wegen seiner Erfindung der "Deltastrahlen" verfolgt wird.
In ähnlicher Weise könnte man im Übrigen mit den amerikanischen Akteuren im Tal der Wölfe verfahren; mit wenigen Eingriffen wären die Amerikaner als solche kaum mehr zu erkennen. Der Kommandant, gespielt vom amerikanischen Schauspieler Billy Zane, entspricht nämlich viel mehr dem Stereotyp, das "wir" etwa von serbischen Warlords haben: eine Art polymorph-perverser Bösewicht, dessen sanfte Stimme seinen wahren Sadismus ahnen lässt. Sein im Film gezeigtes intensives Gebet vor einem Kreuz hat keinerlei Ähnlichkeit mit bekannten rituellen Gebräuchen der protestantischen oder katholischen Kirche. Und seine Vorliebe für weiße Anzüge und Klavierspiel (letzteres ebenfalls von provozierender weißer Farbe) vervollständigt das Gesamtbild einer Dekadenz mit "weibischen" Untertönen.
Etwas Ähnliches setzt sich fort bei den ins Bild kommenden amerikanischen Soldaten, die allesamt entweder blond gefärbte Haarsträhnen besitzen oder gar frei nach David Beckham Zöpfchen im selbigen tragen. Der "türkische Rambo" dagegen, Polat und seine beiden Mannen, tragen den ganzen Film über klassisch männliche, leicht metallisch glänzende, dunkle Anzüge. Mit ihren gleichbleibend unberührten, aber umso entschlosseneren Gesichtern stellen sie den dekadenten amerikanischen Soldaten ihre klar-definierte traditionelle Männlichkeit entgegen. Von den psychischen Brüchen und Konflikten von Stallones Rambo sind sie übrigens recht weit entfernt.
Den Gegner als weibische Memme abzutun, ist eine alte und universelle Erzähl-Strategie; (nicht weniger abgegriffen, wenn auch sehr viel verzeihlicher als das ebenfalls im Film bemühte antisemitische Stereotyp vom jüdischen Geschäftemacher-Arzt) darüber hinaus spiegelt sich in der Darstellung der amerikanischen Soldaten im Tal der Wölfe interessanterweise besonders die Angst vor der Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen, vor der Zerstörung einer Zeichenwelt, in der Zöpfchen im Haar "Frau" bedeutet, das Konzept der "Ehre" unter Männern noch konsensfähig ist und Stereotypen sich mithin allgemeiner Anerkennung erfreuen.
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