Die Stadt Moskau scheint wie ein Phönix der Asche entstiegen. Wo noch vor ein paar Jahren die Bausubstanz der architektonischen Großtaten aus Stalin- und Breschnewzeit vor sich hin rottete, sind nun allüberall die Fassaden neu gestrichen, die Bürgersteige begradigt und neue Geschäfte eingezogen. Das zarte Pastell der Häuserwände und der Glanz der Schaufenster machen fast vergessen, wie mühsam der Weg bis hierhin war. Denn was vor bald 20 Jahren unter dem Namen Perestrojka als hoffnungsvoller Aufbruch begann, führte allen damaligen Erwartungen entgegen nicht direkt in eine bessere Zukunft, sondern nahm den qualvollen Umweg über Zerfall, Zusammenbruch und Zerstörung.
Dieser schmerzhafte Prozess, den Russland durchlief und noch immer durchläuft, spiegelt sich sehr deutlich im Kino wieder. Einst gehörten Filmemacher hier zur geistigen Elite, aber wo eben noch mit Filmen wie Tengis Abuladses Pokajanie (Die Reue) oder Aleksandr Askoldovs Kommissarin sich eine ganze Gesellschaft von den Tabus der Vergangenheit befreite, wurde wenig später der Großteil der Kinosäle an Autoverkäufer und Casino-Unternehmen vermietet. Voll Neid schauten früher die Filmemacher Westeuropas gen Osten: Mitte der achtziger Jahre ging der Sowjetbürger noch durchschnittlich 15 Mal im Jahr ins Kino, mehr als drei Mal so häufig wie in den meisten Ländern der EU. Doch schon gut zehn Jahre später war diese Zahl auf ein historisches Tief von 0,25 Besuchen gesunken - das bedeutet: ein Kinobesuch alle vier Jahre! - und hatte die westlichen Nachbarn damit weit unterboten.
Die Statistik kann das eigentliche Erlebnis nur unzureichend wiedergeben: In den neunziger Jahren in Moskau ins Kino zu gehen kam dem Besuch einer Geisterstadt gleich - in den klotzigen Siebziger-Jahre-Bauten hatten windigen Kontore und Büros ein provisorisches Lager bezogen, an deren Stellwänden vorbei man sich den Weg in den Kinosaal erst mühsam erfragen musste. Die Tickets stammten noch Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion aus deren Lagerbeständen, der aufgedruckte Rubel-Preis brachte Tränen der Rührung über die guten alten Zeiten hervor. Selten, vor allem bei russischen Filmen, befanden sich mehr als fünf Menschen im Saal. Und noch seltener war einer davon jünger als 50 Jahre.
Das russische Kino war also so gut wie tot, die einst so vitale und produktive russische Filmindustrie hängt seither als bloßer Schatten ihrer selbst am staatlichen Tropf, der sie mehr schlecht als recht mit Subventionen versorgt. Auf dem internationalen Markt spielt das russische Kino schon lange keine Rolle mehr und auch auf den internationalen Festivals war es in den letzten Jahren kaum mehr präsent.
Im vergangenen Jahr gab es dann mal wieder einen goldenen Löwen in Venedig: für Andrej Zwjaginzevs The Return. Er gilt den Russen nun als die große Trendwende. War 2001 noch nicht mal mehr im "einheimischen" Wettbewerb des Moskauer Filmfestivals ein russischer Film vertreten, gab es dieses Jahr schon wieder drei. Einer davon, Svoi (Die Unseren) von Dmitrij Meschiev, räumte mit gleich drei Hauptpreisen - bester Film, beste Regie und bester Darsteller - schließlich regelrecht ab. Nikita Michalkov, Vorsitzender der Kinematografisten-Union und Festival-Leiter, konnte sich dementsprechend kaum zurückhalten: Die Preisverleihung war gerade vorbei, das Festival zu Ende, da sprang er doch noch auf die Bühne, um in feierlicher Ergriffenheit der Wiedergeburt des russischen Kinos das Wort zu reden.
So spontan dieser Auftritt erschien, konnte dem zum Filmfestival angereisten Beobachter doch nicht entgehen, wie sorgfältig derzeit in Moskau diese Wiedergeburt auf allen Ebenen inszeniert und herbeigeredet wird. Kaum eine Pressemitteilung, in der sich das Moskauer Filmfestival nicht mit dem in Cannes oder Venedig verglich; auf zahlreichen Diskussionsrunden beschwor man das Zukunftspotential des russischen Kinomarktes und berauschte sich regelrecht an den Wachstumszahlen der neuen Moskauer Multiplexe. Dass das Wettbewerbsprogramm des Festivals von der Filmkritik als äußerst schwach bewertet wurde und mithin Meschievs Preisträgerfilm keine wirkliche internationale Konkurrenz hatte, blendete man einfach aus.
"Wiedergeburt" ist das Schlüsselwort. Das heißt aber auch, dass man den Weg in die Zukunft mit stetem Blick zurück antritt. Auch wenn das Leben, wie es war, in die Sackgasse führte, möchte man von der großen Vergangenheit nicht lassen. Wieder zeigt das Kino nur einen Trend auf, der sich durch die Gesamtgesellschaft zieht. Das Russland, das wir wieder erlangten lautete das schwülstige Motto, mit dem das Programm der russischen Filme während des Moskauer Filmfestivals überschrieben war. Und tatsächlich überwog darin der Trend zur Rückschau: Der Großteil der Filme suchte entweder stilistisch den Anschluss an die sowjetische Epoche oder arbeitete sich anderweitig an ihr ab. Der Preisträgerfilm Svoi (Die Unseren) bestach zum Beispiel damit, wie souverän er formal den Mustern des klassischen sowjetischen Kriegsfilms folgt und diese gleichzeitig "revisionistisch" neu interpretiert: Der Nazi-Kollaborateur ist eigentlich russischer Patriot, der Tschekist ein verliebter Biedermann und der jüdische Intellektuelle opfert sich schließlich tapfer für beide auf.
Auf den ersten Blick scheinen die Filmemacher in Russland die gleichen Probleme zu haben wie ihre europäischen Kollegen. Die Amerikaner dominieren den Markt, der Staat gibt zu wenig Geld und der technische Standard der heimischen Produktion ist zu niedrig, um mit ihnen mithalten zu können. Wie überhaupt es die Kunst halt immer schwer hat gegenüber dem Kommerz. Im Gegensatz zum Rest Europas - und das ist die wahrlich elektrisierende Botschaft des letzten Kinojahrs - zeichnet sich in Russland ab, dass man schon bald die Mittel haben könnte, diesen strukturellen Schwierigkeiten etwas entgegen zu setzen. Die Kinos verzeichnen eine fast dreihundertprozentige Umsatzsteigerung. Mit knapp 200 Millionen Dollar Ticketeinnahmen liegt Russland zur Zeit zwar noch weit hinter einem Land wie zum Beispiel Deutschland mit 850 Millionen zurück, aber die schiere Größe der Föderation mit ihren über 140 Millionen Einwohnern scheint zu garantieren, dass man nur ein paar Kinos mehr mit Dolby Surround ausstatten und ein paar weitere Multiplexe bauen müsste, und der Umsatz könnte bald über 1 Milliarde Dollar betragen. Damit wäre man dann zum drittgrößten Kinomarkt der Welt aufgestiegen.
Dann müssten es die russischen Filme nur noch schaffen, ihren derzeitigen Marktanteil von unter fünf Prozent zu erhöhen, um ein Umsatz-Volumen zu erreichen, von dem sich wieder eine eigene Filmindustrie ernähren könnte. Davon, dass das gelingen kann, ist man im russischen Filmgeschäft derzeit felsenfest überzeugt. Man müsse sich doch nur die Entwicklung im russischen Fernsehen ansehen: Wo noch vor wenigen Jahren südamerikanische Seifenopern und zweitrangige Krimis aus den USA und West-Europa die Bildschirme füllten, sind es jetzt auf allen Kanälen original-russische Serien, die dazu noch im Land groß von sich reden machen. Daran könne man erkennen, dass das russische Publikum sozusagen von Natur aus den heimischen Produkten den Vorzug gäbe, selbst wenn sie technisch oder in anderer Weise zurückfallen gegenüber "fremder" Ware.
An den traditionellen Konferenztischen des Moskauer Festivals zeigte sich eine interessante und in dieser Form neue Frontstellung: Einerseits begegnet man noch immer oft jenem spezifischen Hochmut der alten Elite, die sich als Künstler dazu berufen fühlt, dem Volk vorzuschreiben, was ihm gut tut. Andererseits meldet sich ihnen gegenüber immer häufiger eine Generation zu Wort, die sich in erster Linie als Geschäftemacher begreift, gestählt im Bad des Werbe-Clipmaking für ausländische Firmen und den heimischen mafiösen Geldbeschaffungsmethoden. So lobte in alter Tradition der große Altmeister des russischen und sowjetischen Kinos, Nikita Michalkov, die Überlegenheit des russischen Autorenkinos und forderte den Staat munter dazu auf, "wie in Frankreich" von jedem verkauften Blockbuster-Ticket acht Prozent für die heimische Filmkunst abzuzwacken. Mit Überraschung registrierte er den vehementen Widerspruch der jüngeren Produzentengeneration, die ihm vorhielt, die Blockbuster-Kuh sei doch schon genug gemolken. Schließlich habe man den amerikanischen Blockbustern und den dahinter stehenden Konzernen die Neubelebung der Infrastruktur und damit des Kinomarktes zu verdanken. Sie, nicht der russische Staat, investierten in die Modernisierung der veralteten Anlagen und bauten neue Multiplexe, die den Kino-entwöhnten Zuschauer wieder an die Filmkunst heranführten.
Für den westlichen Besucher ist es nicht leicht, hier den Überblick zu behalten, Missverständnisse scheinen vorprogrammiert: Der diesjährige Jurypäsident Alan Parker, seines Zeichens ein "linker" Filmemacher, war sichtlich angereist, um im russischen Kino eine Art Anti-Hollywood zu unterstützen. Doch bei näherem Hinsehen erweist sich das erhoffte Anti-Hollywood fest in den Händen eines selbstherrlichen Familienclans mit nationalistischen Obertönen. Die eigentlichen unabhängigen Filmemacher Russlands dagegen sind unangenehmer Weise diejenigen, die sich hemmungslos zum kommerziellen Kino bekennen und eine Amerika- und Hollywoodbegeisterung an den Tag legen, die man mit linkem Selbstverständnis meist degoutant findet.
Die Wiedergeburt des russischen Kinos speist sich nämlich nicht nur zum großen Teil aus den Mitteln des amerikanischen Kinos, sondern auch aus dessen Geist. Befördert von der venezianischen Auszeichnung, konnte Zwjaginzews The Return auf dem heimischen Markt immerhin fast 600.000 Dollar einspielen. Die wahren nationalen Hits der letzten Jahre aber brachten es bereits auf mindestens das Doppelte. Nur handelte es sich dabei nicht mehr um Autorenkino in den Spuren Tarkowskijs, sondern um Gangster- und Actionfilme namens Bumer und Antikiller. Dass es von diesen Erfolgsfilmen bereits Sequels gibt, lässt sich nicht nur als Anzeichen zynischen Geschäftemachens lesen, sondern auch dafür, dass man sich hier in ähnlicher Weise um einen lebendigen Kontakt zum Publikum bemüht wie im Mutterland des Kino-Franchising. Die eigentliche Wiedergeburt des russischen Films scheint sich damit auf dem Gebiet des Genrekinos zu vollziehen.
Diese neuen russischen Genrefilme, die als ihre Vorbilder unverkennbar New Hollywood, Quentin Tarantino, aber auch Takeshi Kitano vor sich hertragen, sind zugleich besser und schlechter als ihr Ruf. Sie sind häufig erschreckend rassistisch (und frauenfeindlich) und andererseits überraschend ironisch. Vor allem aber sprechen sie eine eigene Sprache und das im buchstäblichen Sinne: Wo die Filmsprache selbst noch den amerikanischen B-Movies entlehnt ist, benutzen die Figuren einen so erfinderischen wie schlagfertig Slang, der tatsächlich für "echte" Coolness steht - sich aber ins Englische oder gar ins Deutsche nicht mehr übersetzen lässt. Den internationalen Markt werden diese Filme deshalb kaum erobern können, aber auf dem nationalen sind sie heute schon sehr viel einflussreicher als sämtliche Preisträger der internationalen Festivals.
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