Vielleicht kommt man sich nur blöd vor

Politikverdrossenheit Dass einige wenig Interesse an Politik haben, ist schade. Aber vorwerfen kann man es ihnen nicht: Das System an sich ist schon unpolitisch

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Selbst ist man am politischen Prozess nur als Politiker*in wirklich aktiv beteiligt. Mit allen anderen Formen der Teilhabe und des Protests tritt man vor allem als Bittsteller*in auf
Selbst ist man am politischen Prozess nur als Politiker*in wirklich aktiv beteiligt. Mit allen anderen Formen der Teilhabe und des Protests tritt man vor allem als Bittsteller*in auf

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Auch wenn dieser Vorwurf seit dem Erfolg von Fridays for Future kaum mehr laut erhoben wird: Man stört sich daran, wenn die Jugend sich nicht für Politik interessiert. Oder überhaupt irgendwer. Man verachtet Nichtwähler*innen und lobt, sofern dieses nicht den eigenen Ansichten widerspricht, das Engagement von Menschen, die sich freiwillig für eine politische Angelegenheit engagieren. Und auch wenn das alles keineswegs falsch ist – etwa, weil man sich ruhig die paar Minuten Zeit nehmen kann, um ein Kreuz auf ein Blatt Papier zu machen –, hat Politikverdrossenheit durchaus ihre Gründe.

Diese Gründe haben nicht nur damit zu tun, dass Politiker*innen genauso häufig geldgierig, korrupt und rücksichtslos sind, wie es das Vorurteil ihnen unterstellt, sondern sie liegen auch im System an sich. In diesem ist man als Bürger*in nämlich vor allem eins: ein*e Bittsteller*in.

Um Politik bitten statt Politik machen

Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Minderjährige oder in Deutschland lebende Menschen ohne Pass nicht einmal wählen dürfen[1], ist auch das Wahlrecht nichts anderes als das Recht darauf, eine unverbindliche Bitte darüber zu äußern, wie man gerne ungefähr regiert werden möchte. Ja, wir haben politische Freiheit – und, wie Verfechter*innen des Parlamentarismus gerne betonen, im Vergleich zu anderen Ländern oder früheren Zeiten sehr viel davon – aber wir sind davon abhängig, dass uns diese gegeben wird. Es ist keine positive Freiheit, keine Freiheit dazu, selbst politische Entscheidungen mitzugestalten, sondern nur eine negative Freiheit davor, unrechtmäßig unterdrückt zu werden.

Selbst ist man nur an der Gestaltung politischer Entscheidungen beteiligt, wenn man als Politiker*in aktiv ist. Wer dafür nicht die (finanziellen, rhetorischen, zeitlichen) Ressourcen besitzt, kann nur als Bittsteller*in auftreten.

Beim Wählen, beim Briefeschreiben an Abgeordnete ist man in einer Bittsteller*innenposition gegenüber der Regierung. Bei einer Demonstration gewissermaßen ebenfalls, auch wenn es hier vielleicht eher ein Aufbegehren ist als ein Bitten. Dennoch ist man letztendlich auch hier davon abhängig, dass die Regierenden genug Angst vor Stimmenverlust bekommen und sich für die vorgetragenen Forderungen einsetzen. Startet man Petitionen, sammelt Unterschriften oder spricht auf der Straße Leute an, um sie von der eigenen Sache zu überzeugen, ist man zusätzlich noch Bittsteller*in gegenüber diesen Leuten. Man nervt Passant*innen, damit diese einem dabei helfen, Politiker*innen zu nerven. Das ist ehrenwert und leider nötig, aber jemandem, der*die darauf keinen Bock hat, vorzuwerfen er*sie sei unpolitisch, ist mindestens übertrieben. Diese Menschen sind nicht zwangsläufig unpolitisch, das System ist unpolitisch. Einen Abgeordneten bitten zu dürfen, die eigenen Interessen zu vertreten, darauf zu hoffen, dass eine Partei vielleicht ungefähr das umsetzt, was sie versprochen hat, halte ich nicht für besonders politisch.

Dass sich manche Menschen dabei blöd vorkommen und sich dem verweigern, ist zwar schade, aber nicht unverständlich. Es ist nicht richtig und kommt mir nicht besonders demokratisch vor, dass man mit Schildern in der Hand herumschreien oder (z. B. für eine Petition) große Medienaufmerksamkeit generieren muss, um sein Anliegen vorbringen zu können. Zwar ist Nichtstun keineswegs der einzige Ausweg, da ja auch durchaus Möglichkeiten bestehen, sich politisch zu engagieren, ohne nur Menschen im Parlament oder auf der Straße um etwas zu bitten, das einem vielleicht zustehen sollte. Im Rahmen der dafür vorgesehenen Wege sind diese Möglichkeiten aber arg begrenzt und insgesamt sind sie eher ein unerwünschtes Einwirken von außen, das nicht als ordentliches Politikmachen anerkannt wird.[2]

Die Stimme abgeben

Dass das System ein unpolitisches ist, zeigt schon der Wahlkampf: Die Fernsehsendungen zu Wahlen sind nicht gefüllt mit Diskussionen über gute Lösungen für anstehende Probleme (oder darüber, welche Probleme überhaupt gerade anstehen), sondern damit, dass Kandidat*innen für sich werben. Sie präsentieren fertige (wenn auch oft sehr vage) Ideen und das oberste Ziel ist nicht, die beste Lösung für ein Problem zu haben, sondern dem Großteil der Bevölkerung zu gefallen: „Ich bin cool, wählt mich, damit ich euch regiere“ – auch das ist wieder irgendwie eine Bittsteller*innenposition. Das Ganze erinnert wesentlich mehr an Marketing als an Demokratie.

Dass die Wahlberechtigten nicht wirklich demokratisch ihren Willen durchsetzen können, erkennt man auch daran, dass die Regierung regelmäßig an diesem Willen vorbeiregiert. Genannt sei beispielsweise, dass 81 Prozent der Deutschen großen bis sehr großen Handlungsbedarf beim Klimaschutz sehen, die Mehrheit der Bevölkerung der Ansicht ist, für afghanische Ortskräfte würde zu wenig getan und Andreas Scheuer immer noch im Amt ist. Auch bin ich sicher, dass es kaum jemanden gibt, der*die es unterstützt, dass Parteien sich in Krisenzeiten wochenlang mit Personalfragen und gegenseitigen Diffamierungen beschäftigen.

Der Wille der Bevölkerung kommt bei den Regierenden vor allem über Meinungsumfragen und Massenmedien vermittelt an. Dabei geht unterwegs allerdings zwangsläufig einiges verloren, da beispielsweise in Meinungsumfragen immer nur ganz bestimmte Dinge abgefragt werden können und auch in den Medien ja eine Auswahl stattfinden muss. Zudem ist der Wille der Bevölkerung an sich schon ein irreführender Begriff, der aber für unsere Form der Demokratie unentbehrlich ist. Irreführend deshalb, weil er suggeriert, es gäbe einen Willen, den die Regierung dann umzusetzen hat. Deutlich wird auch das wieder im Wahlkampf, wo beispielsweise davon geredet wird, welche Koalition „die Bürger“ haben wollen und welche nicht. Es klingt ungefähr so, als gäbe es ein einzelnes Gesamtinteresse, das sich alle Bewohner*innen eines Landes oder Bundeslandes teilen.

In diesem durch Meinungsumfragen etc. vermittelten Gesamtinteresse (dem, siehe oben, oft nicht einmal nachgekommen wird) bleiben Ansichten von Minderheiten und Nichtwahlberechtigten genauso unbeachtet wie alternative, möglicherweise differenziertere Lösungsvorschläge. Das gilt für Parlamentswahlen ebenso wie für Volksentscheide. Die Entscheidung bleibt extrem abstrakt, es gibt keine Diskussionen und kaum Möglichkeiten, die Berücksichtigung lokaler oder gruppenspezifischer Bedürfnisse abzufragen. Man wird vor eine Wahl gestellt und darf zwischen einigen Alternativen wählen. Darüber, wie diese Alternativen aussehen sollen, ist aber keine Diskussion möglich, es sei denn, man hat selbst genug Zeit für (viel unnütze) Partei- oder Öffentlichkeitsarbeit.

Hier die Regierenden, da die Regierten

Auch wenn dem rein juristisch nicht so ist, existiert doch, grob gesagt, nach wie vor eine Zweiteilung: hier die Regierenden, da die Regierten. Die Bevölkerung regiert ja mitnichten sich selbst, sie darf nur ungefähr auswählen, wer sie regieren soll. Abgesehen davon wird sie wie ein unmündiges Kind behandelt. Das wird etwa dann deutlich, wenn basisdemokratische Bestrebungen mit dem Argument abgelehnt werden, dass dabei ja die Rechte von Minderheiten in Gefahr wären – als würde die auf sich selbst gestellte dumme Bevölkerung zwangsläufig Menschenrechte einschränken und müsste von den klugen Regierenden davon abgehalten werden. Etwas offensichtlicher wurde diese Arroganz zum Beispiel als Seehofer davon geredet hat, dass man Gesetze komplizierter machen müsse, damit die Bevölkerung sie nicht unzulässig infrage stellt.

Auch wenn Bewegungen wie die Partei dieBasis basisdemokratische Ansätze gerade wieder in ein schlechtes Licht rücken – da sie eben dieses Bild von der dummen Bevölkerung verstärken, indem sie dumme Forderungen vorbringen und diese der Bevölkerung in den Mund legen[3] – ist es durchaus vorstellbar, dass ein Mehr an Demokratie viel mehr Vor- als Nachteile nach sich ziehen würde. Dass dafür viele Voraussetzungen erfüllt werden müssten, ist klar. So bräuchten die Menschen mehr Zeit und weniger Arbeitszwang, um überhaupt Entscheidungen mit treffen zu können. Mehr Zeit und Fähigkeiten, Recherche zu betreiben, Zusammenhänge zu verstehen usw. wären ebenfalls hilfreich. Auch wäre es zuträglich, wenn unser Wirtschaftssystem weniger auf Konkurrenz und Angst aufbauen würde, da man sich dann auch weniger Sorgen um menschenfeindliche Beschlüsse machen müsste – wobei hier nochmal erwähnt werden sollte, dass auch und gerade die Regierenden kein verlässlicher Schutz vor Menschenfeindlichkeit sind, oft eher im Gegenteil.

Wäre unsere Demokratie ein Stück demokratischer und weitreichender, würde sie vielleicht nicht so tief in der Krise stecken. Die Menschen hätten vielleicht ein größeres Interesse an einem wirklichem Politik-Machen als am aktuellen Andere-Darum-Bitten-Politik-Zu-Machen.

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[1] Abgesehen von einigen Ausnahmen auf kommunaler und wenigen Ausnahmen auf Landesebene, wo es zumindest ein aktives Wahlrecht ab 16 gibt.

[2] Zwar wird schon betont, dass politisches Engagement wie z. B. das von Fridays For Future gewünscht ist und zur Demokratie dazugehört. Aber die Regierung hat nicht gerade mit Freud darauf reagiert und auch ansonsten kommen Themen i. d. R. erst auf die Tagesordnung, wenn eine Nichtbeachtung Wähler*innenstimmen kosten würde.

[3] So äußert sich die Partei z. B. kritisch gegenüber den Corona-Maßnahmen und darüber, dass sie über die Köpfe des Volkes hinweg beschlossen worden sind. Zum Teil hat sie schon Recht: Man hat während der Corona-Krise durchaus gesehen, wie zügig und unabhängig von der Bevölkerung Gesetze gekippt und verabschiedet werden können. Wären diese Entscheidungen allerdings basisdemokratisch getroffen worden, würden sie sich gar nicht so sehr von den parlamentarischen Beschlüssen unterscheiden und wären teilweise sogar gegensätzlich zu den Forderungen von dieBasis ausgefallen.

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