Das Individuum an der Globalisierungsfront

Vielfalt oder Immunschutz? Was verstehen Rüdiger Safranski und Naomi Klein unter dem Allerweltswort Globalisierung?

Die »globale Selbstwahrnehmung des Menschen« könne kaum noch von einer Depression unterschieden werden. Rüdiger Safranski ist skeptisch gestimmt. Der Überblick über das »global village« erinnert ihn an ein Diktum Schopenhauers, wonach die Erde verloren im Kosmos driftet, überzogen von einer Schimmeldecke, die »lebende und erkennende Wesen erzeugt hat«. In die Lichtung seines Arbeitsplatzes winken ihm die weiten Horizonte der »ganzen« Welt als bedrohlich herüber. Auf diesen Horizonten eilt die kanadische Aktivistin Naomi Klein von einem Brennpunkt zum nächsten, um zu dokumentieren, was sich an den Globalisierungsfronten tut.

»Globalisierung« ist ein höchst variabler Kampfbegriff, den Neoliberale und Anti-Globalisierer je eigensinnig ins Feld führen. Meist bleibt er zudem in sich widersprüchlich. Die Kritiker agieren global, wenn sie den Globalisierern Widerstand leisten, denen wiederum der heimische, also eigene Profit am nächsten liegt. Globalisierung als Effekt, als Ideologie oder als Lebensform, meist ist dabei das Lokale nicht weit. In diesem Punkt sind sich der akkurate Denker und die agile Journalistin einig. »Globalismus«, wie es Safranski nennt, »ist Legitimationsideologie für die ungehemmte Bewegung des Kapitals auf der Suche nach günstigen Verwertungsbedingungen«, also Profitmehrung. Im Gefolge dessen, ergänzt Naomi Klein, sind alle geschützten Räume »aufgebrochen worden, nur um vom Markt wieder eingezäunt zu werden«. Die Einigkeit zwischen den beiden endet, wo es um die Einschätzung der Chancen und Vorteile der Globalisierung geht.

Über Zäune und Mauern versammelt eine Reihe von Aufsätzen und Kolumnen, die Naomi Klein an den Brennpunkten des antiglobalen Kampfes zwischen Seattle, Porto Alegre und Prag verfasst hat. Mitunter kokettiert die überzeugte Internationalistin mit ihrer Nähe zur Globalisierungsfront, etwa wenn sie in Quebec auf den von Tränengas umnebelten Barrikaden ihren Text in einen »betagten Computer« tippt. So werden die Mythen des antiglobalen Widerstands geschrieben, doch Naomi Klein ist sich der eigenen Widersprüche ebenso bewusst wie der aussichtslosen Eigendynamik, die zwischen Polizei und Demonstranten zusehends entbrennt. Dagegen versucht sie weiter führende Perspektiven zu entwickeln.

»Wir können global kommunizieren und reisen, wir können aber nicht im Globalen wohnen«, hält ihr Rüdiger Safranski kritisch entgegen. »Je mehr emotional gesättigte Ortsbindung, desto größer die Fähigkeit und Bereitschaft zur Weltoffenheit.« Das eine bedingt das andere also mit. Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?, fragt er mit anthropologischem Aplomb und spiegelt die Frage nach einem kurzen begrifflichen Exkurs über das »Globale« in die Philosophiegeschichte zurück.

»Das Ganze lässt sich denken, aber nicht leben«, konzentriert er den grundsätzlichen Vorbehalt und nimmt dafür Hegel zum Zeugen: »Etwas ist nur in seiner Grenze und durch seine Grenze das, was es ist. Man darf somit die Grenze nicht als dem Dasein bloß äußerlich betrachten ... Wer gegen das Endliche zu ekel ist, der kommt zu gar keiner Wirklichkeit, sondern er verbleibt im Abstrakten und verglimmt in sich selbst.« Der Traum vom Ganzen kommt also nicht ohne Rückbezug aufs Nahe, Eigene aus. Um gegen den Selbstverlust vorzubauen, muss der Mensch eine Grenze ziehen, sich eine (möglichst handyfreie) Lichtung schlagen, um Raum und Orientierung im Dickicht der Zeichen zu schaffen. Die menschliche Vernunft bedarf einer solchen Lichtung gegen die »globale Platzangst«. Mit Bezug auf Rousseau plädiert Safranski für diesen Weg nach innen, wo »das wahre Leben« vermutet wird. Die Weltgeschichte als Appendix der Lebensgeschichte?

Mit Blick auf Naomi Klein erzeugt dieser Rückzug auch Unbehagen. »Es ist kein Zufall«, schreibt sie, »dass die Polizeigewalt immer in gesellschaftlichen Randgruppen gedeiht«, bei den Obdachlosen, die gemeinhin zur Masse aufsummiert werden, aber selten nicht als Individuen gelten. Der Widerstand, der von ihrer Seite der ökonomischen Globalisierung erwächst, resultiert aus der begründeten Furcht, nicht nur das individuelle Wohlbefinden, sondern die Freiheit an den Konzernkapitalismus zu verlieren. Auf dem Spiel stehen reale Individuen (von außerhalb der westlichen Gesellschaft), die systematisch ausgegrenzt und von der Lichtung des Westens fern gehalten werden.

Die totale Ökonomisierung des Privaten hat für Klein zur Folge, dass sie sich als Teil der Widerstands-Netzwerke sieht, darum wissend, »dass die Würde des Menschen und der Schutz der Umwelt zu wichtig sind, als dass man tatenlos darauf wartet wie auf den Regen nach einer Dürre«. Ihre Texte sind Versuche, sich selbst als Individuum zu beweisen und sich innerhalb des antiglobalen Widerstands eine Rolle, eine Lichtung zu schaffen, indem sie aufklärt und differenziert.

Dabei ist sich auch Naomi Klein bewusst: »wir wissen zuviel«. Vergleichbar mahnt Safranski: »Nicht nur der Körper, auch unser Geist braucht einen Immunschutz; man darf nicht alles in sich hineinlassen, sondern nur so viel, wie man sich anverwandeln kann.« Die Differenz besteht darin, dass der zurückhaltende Intellektuelle den Frieden zwischen seiner ersten und seiner zweiten, also der kulturellen Natur erstrebt, während die Aktivistin die beiden Naturen in produktiver Spannung zueinander hält.

Die Bücher von Rüdiger Safranski und Naomi Klein stehen in vielerlei Hinsicht konträr zueinander. Wo jener mit Platon, Kant, Goethe oder Schiller das Individuum vor den Zumutungen der globalen Vernetzung in Schutz nimmt, stürzt sich diese in den internationalen Kampf, um gegenüber den »Kamikaze-Kapitalisten« die »globale Vielfalt« zu retten. Zwei Wege, dennoch ein gemeinsames Ziel: das »Pluriversum« (Safranski) aus freien Individuen.

Mit Bezug auf die biblische Geschichte von Kain und Abel notiert Safranski: »Die Sorge um Selbsterhaltung und der Kampf gegen die Ungleichbehandlung - diese Komponenten zusammen wirken explosiv und lassen den Menschen zugleich schöpferisch und gefährlicher werden.« Wer durch die neoliberale Gleichschaltung von öffentlich und privat in seinen Grundrechten und -bedürfnissen verletzt wird, muss sich zur Wehr setzen. Die Aktionen der »tutte bianche« in Italien, das Weltsozialforum in Porto Alegre, die legendäre Figur des Subcommandante Marcos symbolisieren einen schöpferischen Widerstand, der an Rückhalt gewinnt, je mehr sichtbar wird, dass »Globalisierung« im ökonomischen Sinn oft wenig mehr bedeutet als Privatisierung des Gemeinwesens und Internationalisierung der Innenpolitik. Naomi Klein belegt es anhand zahlreicher Beispiele. An der kanadisch-amerikanischen Grenze etwa werden für teures Geld »intelligente« Verfahren entwickelt, die das reibungslose Passieren von Gütern mit dem Schutz vor illegaler Einwanderung verbinden.

»Welche Werte sollen das Zeitalter der Globalisierung beherrschen?« fragt Klein. Gleichsam als ein Friedensangebot über Grenzen und Lichtung hinaus antwortet ihr Safranski mit Kants Abhandlung Zum ewigen Frieden von 1795. Die Eckpunkte von Kants Überlegungen sind eine unbedingte »Achtung fürs Recht«, die zivilisierende Kraft des Welthandels und das Prinzip der demokratischen Publizität. Durch die Vernunft wird dieses System geadelt. Safranski beurteilt es wie folgt: »Wer die ›Menschheit‹ in sich ehrt, überwindet das bloße Selbsterhaltungsinteresse und wird fähig zur Solidarität. Diese Vernunft, so Kant, macht den Menschen zum Weltbürger.«

Globalisierung ist ein ausgesprochen heterogener Begriff, der das Gute meint und (oft nur) das Egoistische schafft. Rüdiger Safranski und Naomi Klein geben aus ganz unterschiedlich subversiver Perspektive - mit Rekurs auf die sozialen Kämpfe beziehungsweise den sozialen Gedanken - ein paar differenzierte Hinweise zur Begriffsklärung. Wir sind gerne blind für die Tatsache, dass wir alle freimütig Globalisierte sind. Der sich wechselseitig bespiegelnde Blick aufs globalisierte Individuum durch Safranski und Klein birgt vergleichsweise auch den Appell in sich, nicht nur Kritik an der ökonomischen Globalisierung zu üben, sondern uns selbst deren Gesetzen von Eigennutz und Eigenprofit zu entziehen. Erst das selbst-bewusste Individuum an der Globalisierungsfront gewinnt seine Handlungsfähigkeit gegenüber dem Konzernkapitalismus zurück.

Rüdiger Safranski: Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? Hanser Verlag, München 2003. 118 S., 14,90 EUR

Naomi Klein: Über Zäune und Mauern. Berichte von der Globalisierungsfront. Campus Verlag, Frankfurt 2003. 304 S., 17,90 EUR

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Geschrieben von

Beat Mazenauer

Autor, Literaturkritiker und Netzwerker.

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