Alle wahrhaft große Literatur sei der Natur nach enzyklopädisch, wusste Gustave Flaubert. Demzufolge sollte das Enzyklopädische auch Substrat sein für sein insgeheimes chef d´oeuvre, den Roman Bouvard und Pécuchet. Ein halbes Leben lang fieberte er auf dieses eine Buch hin, worin er sich frei zu schreiben trachtete. "Ich verschlinge Druckseiten und mach mir Notizen für ein Buch, in dem ich meine Galle auf meine Zeitgenossen auszuspeien versuchen werde", notierte er 1872 an einen Freund. Bis zu seinem Tod 1880 würde er nichts anderes mehr tun.
Dieses Ziel vor Augen ackerte er insgesamt 1.500 Ratgeber und Handbücher durch, um daraus einen immensen Fundus an Zitaten, Sottisen und Absonderlichkeiten zusammen zu tragen, aus dem seine beiden Helden Bouvard und Pécuchet ihr Wissen bezogen. "Einfach nur alles" ließ er sie selbstbewusst auf die enzyklopädische Herausforderung antworten. In die Einfalt dieser Formel steckte Flaubert die epochale Tragikomödie des Geistes und der Bildung.
Eine Erbschaft ermöglicht es den Sonderlingen Bouvard und Pécuchet, ihr tristes Kopistendasein aufzugeben und auf dem Land ein kleines Gut zu erwerben. Beeindruckt von der Schönheit der Natur beginnen sie Gartenpflege, danach Ackerbau zu betreiben. Sie fühlen sich, angesichts "der Fruchtbarkeit der Scholle, von einer Art religiöser Inbrunst ergriffen". Deshalb lesen sie sich eiligst durch Handbücher und Ratgeber, um sich mehr Wissen darüber anzueignen. Nur mit der praktischen Umsetzung will es nicht klappen. Die Weizenernte bleibt kümmerlich, die Erdbeeren sind überdüngt, die Melonenzucht ergibt ungenießbare Kreuzungen, weil die beiden Erfahrung und Geduld allzu gering schätzen. Als auch die Konservenproduktion missrät, erkennen sie, dass sie mehr von Chemie verstehen müssten.
Also machen sie sich von Neuem ans Werk und studieren Ratgeber über Chemie, um sich bald darauf in die Medizin zu schlagen, danach in die Astrologie, die Geologie und so weiter bis hin zu Theologie und Pädagogik. Je weiter sie aber vorstoßen, umso mehr bemerken sie, dass selbst die Experten sich uneins sind. So schwindet ihr Respekt, erlöscht ihr Interesse, werden sie der einen Sache überdrüssig, um eine nächste zu beginnen, und so fort.
Bouvard und Pécuchet surfen gewissermaßen über das im 19. Jahrhundert euphorisch beschworene neue Weltwissen, ungeduldig, doch angespornt von leidenschaftlichem Entdeckungseifer. Für Flaubert stellen sie dergestalt zwei dankbare Instrumente dar, um durch ihren Mund all seinen "Hass auf die Dummheit meiner Epoche" auszudrücken.
Allerdings sind Bouvard und Pécuchet nicht die einzigen Idioten. So trottelhaft sie sich benehmen, die Umgebung wirkt um keinen Deut klüger. Mehr noch, ihr Eintreten für umstürzlerische, fortschrittliche Ideen verrät so etwas wie Prinzipientreue, die sich auffällig abhebt vom moralischen Opportunismus und bigotten Phlegmatismus der dörflichen Umgebung. Es gibt Verwerflicheres als prinzipielle Dummheit: prinzipienlose Dummheit - gerade unter scheinheiligen Aufklärern. An diesem Punkt wird Flauberts Denkfigur zur Kippfigur. Aus den Dummlingen werden tragische Figuren, die erkennen, wie dummdreist sich die ehrenwerte Gesellschaft insgesamt benimmt.
Flaubert betrachtet die Wissenschaften in seinem Roman unter dem Aspekt des Lächerlichen, das diese selbst hervorrufen. Darin liegt dessen Zeitlosigkeit, also auch erfrischende Aktualität. Häme verdienen seine Helden daher nicht. Sie sind gefangen in einem Dilemma, das heute aktueller denn je ist. Sie verzweifeln, weil das Wahre sich empörender Weise unter einem Wust an Informationen verbirgt, zugleich misstrauen sie all den "wahren" Meinungen anderer. So etwa, wenn Bouvard der französischen Intervention in Italien 1849 jegliche Legitimität abspricht mit dem Argument, dass es sich hierbei um "Machtmissbrauch, Anschlag auf das Recht des anderen, scheinheilige Gewalt" handle.
In den Augen Flauberts vermochten Bouvard und Pécuchet den aufgestauten Hass auf die "bêtise humaine" nicht zu stillen. Er trachtete nach mehr, als zwei literarische Figuren bloßzustellen. Doch um die ganze Epoche anzuklagen, bedurfte es anderer Mittel. Sein Roman bricht exakt an jenem Punkt ab, wo Flaubert den entscheidenden Umschlag vorsah. Am Ende ihrer Weisheit angelangt, entschließen sich Bouvard und Pécuchet, wieder als Kopisten zu arbeiten, den Schritt zurück ins anonyme Schreiben zu tun. Der Roman vollzieht nach Flauberts Plänen diese Bewegung radikal mit. Der geplante Folgeband sollte "beinahe nur aus Zitaten bestehen": den Prunkstücken aus den gegen 4.000 Seiten, die er während seiner Recherchen vollgeschrieben hatte. La Copie nannte er ihn, der Herausgeber René Dumesnil hat später dafür den heute gebräuchlichen Namen Le Sottisier geprägt.
Dieses Werk ist unvollendet. Genau genommen besteht es aus einigen hinterlassenen Aufzeichnungen sowie dem besagten Zitaten-Konvolut. Es gibt also keine autorisierte Fassung davon - vergleichbar dem Passagenwerk von Walter Benjamin. Doch die Idee dahinter ist unbestritten: Der Autor Gustave Flaubert wollte hinter einem Wust aus Zitaten als Autor selbst verschwinden, symbolischen Selbstmord begehen.
Thematisch umfasst das Sottisier dieselben Themen, die Bouvard und Pécuchet ohne Erfolg behandeln. Das ihm zugrunde liegende Dossier von Rouen, das in der deutschen Ausgabe mit abgedruckt ist, enthält Zitate über Landwirtschaftskunde, Philosophie, Schönheit, Erziehung und große Männer, aber auch die 1848er Republik, Spiritismus und Theater. Eine unglaubliche Menge an Stoff, ein verwirrendes Gemengsel aus Wissen, Halbwissen und Unsinn, woraus Flaubert eine gespenstische Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit exzerpierte.
Alles ist gleichwertig darin. Wissenschaftliche Widersprüche werden herausgestrichen, indem sie einfach nebeneinander zitiert werden, verfolgt von den "Schönheiten der Religion" oder Unsinnsbefunden à la "Der Reichtum eines Landes hängt vom allgemeinen Wohlstand ab". Napoleon III. wird ebenso blamiert wie Voltaire, Rousseau oder Stendhal. Flaubert kennt kein Erbarmen.
Mit dieser skandalösen "Bibliotheksphantasie" (so Michel Foucault) nahm Flaubert nicht nur die Diskussionen um den "Tod des Autors" vorweg, sondern auch eine Stilfigur, die der Netzwerkautor Mark Amerika 1999 unter den Begriff "Surf - Sample - Manipulate" gestellt hat. Der Text, der sich in die flächige Textur auswächst, ist ein Remix von heranzitierten Bausteinen. Es ist, schreibt der Herausgeber, "Flauberts geradezu initiatorische Leistung, diese Offenheit ... ins Auge gefasst zu haben, als sich plausible attaches narratives für die auseinander strebenden Ideen einfach nicht mehr herstellen ließen".
Hans-Horst Henschen hat vorzügliche Arbeit geleistet. Aufgrund eigener Recherchen im Archiv ist seine Sottisier-Ausgabe umfangreicher als das französische Pendant. Er hat etliche Notizen umgruppiert und andere überhaupt erst mit aufgenommen. Dazu hat er mit Akribie Flauberts Bruchstücke kommentiert, annotiert und indexiert, so dass daraus die mustergültige Leseausgabe eines in vielfachem Sinn phantastischen Buches entstanden ist.
Flauberts zweigesichtiges Meisterwerk ist ein Zerrspiegel der auch heute wieder euphorisch beschworenen Wissensgesellschaft. Wo alle schnell mal dies lernen müssen und jenes wissen möchten, triumphieren zwangsläufig sekundäre Quellen, Ungeduld, Hörensagen und Nachgeplapper. Folglich tummeln sich Bouvard und Pécuchet heute auf dem Internet und in Manage-dich-frei-Kursen. Folglich werden Phrasen und Meinungen der Einfachheit halber kopiert, rezykliert, kolportiert.
Allerdings gibt es auch eine positive Lesart: In dem immensen Text- und Bild-Universum, das uns umgibt, ist es reine Anmaßung, weiter dem Prinzip Genie huldigen zu wollen. Kunst ist die kreative Organisation von bestehenden Bausteinen, lautet Flauberts unterschwellige Maxime. Er hat zu diesem Zweck gesammelt, was er gefunden hat, doch er hat auch danach gesucht. Denn selbst ein Gemengsel wie diese "encyclopédie critique en farce" fügt sich nicht per Zufall zusammen. Es bedarf des Scharfsinns eines wachen Geistes, die Perlen zu suchen, die er finden will. Dergestalt demonstriert uns das Sottisier zuguterletzt auch, wie sich das Verhältnis von Suchen und Finden verschiebt. In Zukunft werden wir mehr suchen (und lesen) müssen, um das Richtige zu finden (und abzuschreiben). Diesbezüglich ist das Sottisier viel mehr als bloß ein literarischer Witz.
Gustave Flaubert: Bouvard und Pécuchet. Neu übersetzt und kommentiert von Hans-Horst Henschen. Die andere Bibliothek 222, Eichborn, Frankfurt 2003. 500 S., 30 EUR
Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit. Ein Sottisier. Herausgegeben und übersetzt von Hans-Horst Henschen. 736 S., 34,90 EUR
Dazu: Transkribierte Handschriften und Kommentare. Beide Eichborn Berlin 2004.
208 S., 29,90 EUR
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