Es kam aber Putin

Stratege oder Hasardeur? Viktor Timtschenko beschreibt die ersten drei Jahre der Präsidentschaft von Wladimir Putin

Neue Besen kehren gut. Die politischen Nachrichten, die uns seit drei Jahren aus Russland erreichen, deuten an, dass diesem Wahlspruch unter dem neuen Kreml-Herrn Wladimir Putin tüchtig nachgelebt wird. Jelzins Günstlinge, Kaderfreunde aus kommunistischer Zeit und Privatisierungsgewinnler, werden seit Putins Machtantritt aus ihren Positionen weg befördert. Damit scheint endlich auch mit dem Schlendrian, den Jelzin persönlich verkörperte, Schluss zu sein. Putin hat gleich von Beginn an einen beeindruckenden Reformwillen bekundet und ihn auch durchgesetzt. So wurden Renten, Beamtenlöhne und der Wehrsold angehoben. Polizei und Gerichte wollen sich inzwischen um Rechtssicherheit bemühen. Steuern werden eingezogen und die Schattenwirtschaft bekämpft.

Zwar wunderte man sich, dass auch die alte Nationalhymne aus Sowjetzeiten wieder eingeführt wurde, doch eine Schlüsselzeile daraus mag auch diese Maßnahme rechtfertigen: "Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!" Genau darauf zielt Putins Politik ab.

Das zustimmende Staunen wandelt sich jedoch in Skepsis und Misstrauen, wenn jene zwei Themen zur Debatte stehen, die in Westeuropa am ehesten Beachtung finden: Tschetschenien und Pressefreiheit. Erst recht seit dem 11. September 2001 gilt der rücksichtslose Krieg im Kaukasus als Feldzug gegen den Terrorismus. Putins Verdienst liegt darin, diesem Krieg zu einer Legitimität verholfen zu haben, die keinen Widerspruch duldet. Nicht minder kontrovers diskutiert wird die Einschränkung der Pressefreiheit. Die beiden einzigen Alternativen zum Staatsfernsehen, die Sender NTW und ORT, hat Putin durch administrative und ökonomische Winkelzüge unter Kremlhoheit gebracht und sich so gefügig gemacht.

Allerdings, räumt Viktor Timtschenko in seinem Putin-Buch ein, seien die Medien in Russland nie frei gewesen. Die Fernsehsender NTW (Gussinskij) und ORT (Beresowskij) gehörten zwei der mächtigsten Oligarchen, entsprechend parteilich war ihre Berichterstattung; "oligarchischer Pluralismus" nennt es Timtschenko. Ihre Stillstellung habe so vor allem auch die politische Entmachtung der beiden Jelzin-Gefolgsleute bezweckt. Die fast totale Kontrolle der öffentlichen Meinung ist dabei ein schöner Nebeneffekt. Angesichts dessen, hat der Schriftsteller Juri Mamlejew jüngst geschrieben, dürfe sogar Kritik geübt werden, sie werde ohnehin nicht gehört.

Sicherheit und Kontrolle: die beiden zentralen Reformziele weisen auf die Widersprüchlichkeit der Putinschen Politik hin. Viktor Timtschenko versucht sie in seiner politischen Biographie zu erläutern und zu bewerten. Erstes gelingt ihm anschaulich in journalistischer Manier, zweites missrät ihm wegen seiner nebelhaften analytischen Rhetorik. Ist Putin Reformer oder Diktator? Timtschenko bleibt uns eine dezidierte, wenn auch differenziert abwägende Einschätzung aus der Optik des Kenners schuldig.

Unbestritten ist, dass Wladimir Putin die völlig korrumpierte Jelzin-Verwaltung so schnell wie möglich umkrempeln wollte, um zum einen der russischen Bevölkerung wieder ein Gefühl von Sicherheit und Stolz zurück zu geben, und zum anderen um Anreize zu schaffen für in- wie ausländische Investoren. Innenpolitisch versucht er den Spagat zwischen Marktöffnung und Stärkung des Staates in strategisch zentralen Bereichen. Für die Sicherung von grundlegenden Bedürfnissen werden individuelle Freiheiten vorerst hintan gestellt. Zuerst das Fressen, dann die Moral. Über Kultur wird geschwiegen, auch in diesem Buch.

Der selbst in der Sowjetunion gebürtige, heute in Deutschland lebende Viktor Timtschenko vermag aus eigener Erfahrung einzuschätzen, wie eine solche Prioritätensetzung auf die russische Bevölkerung wirkt. Der im Westen gepriesene Gorbatschow gilt bei ihr wenig, weil er die russischen Interessen verraten habe. Seine unstrukturierte Politik der Öffnung bot dem Westen ein Schnäppchen, das dieser bloß mit rhetorischem Lob verdankte. Nach der Stagnation unter Jelzin hat Putin nun bemerkt, dass er die Rolle Russlands wieder stärken muss, gerade auch um dem Anspruch der Russen, Bürger ein Großmacht zu sein, gerecht zu werden. Seine Beliebtheit scheint ihm Recht zu geben.

Außenpolitisch jedoch bilanziert Timtschenko einige herbe Niederlagen, insbesondere in der kaukasischen und kaspischen Region, wo sich die Amerikaner auf ihrer ständigen Ölsuche festzusetzen versuchen. Timtschenko hat sein Buch zu einem Zeitpunkt fertig gestellt, als die Einnahme Bagdads, nicht aber der seither schwelende Guerillakrieg bekannt war. Dies führt zu einigen vorschnellen Einschätzungen, was den US-Einfluss in der Region betrifft. Timtschenko verzettelt sich in ausführlichen Exkursen darüber, die im Effekt indes wenig über Putins strategische Überlegungen aussagen.

Dass die USA eine machiavellistische Politik betreiben, verdient zwar Erwähnung, wenn es um das ebenso zweckgerichtete Handeln Putins geht. Timtschenko stellt jedoch nicht selten schiefe Quervergleiche an, die ein differenziertes Urteil eher behindern. Folglich bleibt das Bild, das er von Putin zeichnet, unscharf. Ist Putin der taktisch kluge, geduldige Judoka, der nachgibt, um seinen Gewinnzug anzusetzen? Der gewiefte Stratege, der Russland als künftigen Widerpart zu den USA aufbaut, oder ein politischer Hasardeur, der zwischen Anpassung und Widerstand schwankt?

Timtschenko würdigt mit Respekt, was Putin - oft im Schatten der großen Nachrichten - an Reformen zustande gebracht hat. Doch zugleich neigt er dazu, positive Errungenschaften übergangslos und ohne argumentative Signale mit problematischen Maßnahmen zu vermengen, so dass unklar bleibt, wie sich der Autor selbst dazu stellt. Typisch dafür ist eine Formulierung gleich im ersten Kapitel. Demokraten hätten am Ende der Regentschaft Jelzins nur die Hoffnung auf einen aufgeklärten Zaren gehabt: "Es kam aber Putin." Putin der Aufklärer, Putin der Demokrat oder Putin der Zar? Was dieses "aber" exakt bedeutet, wird nicht ausgeführt. So bleibt den Lesern dieses Buches von Putin bis zum Schluss vor allem der Eindruck eines großen Rätsels.

Viktor Timtschenko: Putin und das neue Russland. Diederichs, München 2003, 352 S., 22 EUR


12 Monate für € 126 statt € 168

zum Geburtstag von F+

Geschrieben von

Beat Mazenauer

Autor, Literaturkritiker und Netzwerker.

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