Das erschreckte Antlitz der Vergangenheit zugewendet, die vergangene Katastrophen im Blick, wird der Engel vom Sturm der Zeit unaufhaltsam der Zukunft zugetrieben. Walter Benjamins legendäres Symbolbild des Fortschritts frei nach einer Zeichnung von Paul Klee (Angelus Novus) scheint auch die Musik des Kanadiers Neil Young zu treffen. Mit Blick auf die Verluste der Vergangenheit treibt dieser Songwriter und Gitarrist seine Musik unaufhaltsam voran in eine Ekstase, in der sie sich auflöst. Zurück bleibt die Vergangenheit mitsamt der Erinnerung an das "homeland we´ve never seen".
Auch wenn sich die Verkrampfung etwas gelöst hat, so scheint es noch immer erklärungsbedürftig, warum Rockmusik mehr ist als ein pubertäres Surrogat. Rockmusik spiegelt die Epoche, in der wir leben; zugleich werden in ihr Kräfte gebannt, die schon immer auch in Musik kanalisiert worden sind.
Diesen Zusammenhang entdeckt der Islamwissenschafter und bekennende Neil Young-Fan Navid Kermani in einem schillernden, faszinierenden Buch. Mit stillschweigendem Rekurs auf Benjamin nennt er Neil Young den "rückwärtsgewandten Voranschreiter der Rockmusik".
Der Anlass für dieses Buch war dem Zufall geschuldet. Als seine kleine Tochter von einer tückischen Drei-Monate-Kolik gepeinigt wurde, bemerkte Kermani, dass Neil Youngs Gesang lindernd auf sie wirkte. Eine wunderbare Koinzidenz. Von The Last Trip to Tulsa über Pocahontas bis hin zu Cortez the Killer führt die Reihe der Songs, die er aus gegebenem Anlass neu, intensiver hört und reflektiert. Er führt seine Gedanken fort, auch als die Tochter nicht mehr dieses Sedativs bedarf. Versucht er anfänglich zu erklären, worin die suggestive Kraft Neil Youngs gründet, bezieht er dessen Songs zusehends auf sein eigenes Leben, indem er betrachtet, wie es in diesen Texten aufgehoben ist.
Kermanis Buch ist mehr als eine intellektuelle Fingerübung, nämlich ein sehr subjektives und sehr erhellendes Traktat über die tieferen Wurzeln der Populärkultur. Dabei ist es gewiss gut, beim Lesen ein paar Klänge von Neil Young im Ohr zu haben: Pocahontas eben, Down by the River, oder Rust Never Sleeps: "It´s better to burn out than to fade away".
Neil Young, ein ingrimmiger Glückssucher, oder ein gelassener Apokalyptiker, vermag zu faszinieren. Als Musiker ist er ein extremer Langbrenner, seit Ende der sechziger Jahre im Geschäft, sorgt er noch immer für Überraschungen. Dies, obwohl er, wie er selbst bekennt, weder ein guter Sänger noch ein guter Gitarrist ist. Young selbst hat darauf hingewiesen, dass er "eine Menge Noten, von denen ich weiß, dass es sie nicht gibt", spiele; und Kermani ergänzt, dass seine Begleitband Crazy Horse "genau jene Noten kennt, die es nicht gibt".
Was daraus entsteht, ist frei nach Nietzsche eine dionysische Musik, die Kermani mit einer wunderbaren Volte in sein eigenes Forschungsgebiet überträgt. Bei seiner Arbeit stieß er auf eine mystische Handschrift: "Das Buch der vom Koran Getöteten". Darin fand Kermani eine faszinierende Parallele zu Young, denn getötet wurde in jener Handschrift durch entrückende Gesänge aus dem Koran. Die Kraft und Überzeugung, die Neil Young in seine Songs legt und in seinen Konzerten steigert, "das kenne ich in vergleichbarer Radikalität nur aus der frühislamischen Askese". Mit Blick vor allem auf die Live-Präsenz, in denen Young seine Stücke förmlich zersägt und zerschreddert, sieht Kermani Parallelen zur Sufi-Praxis: Nur wer außer sich gerate, dringe in sich vor. Der Findende (Wâdschid) ist ein "sich Verlierender" (Fâqid), doch es "gibt ein Bleiben in der Entwerdung, baqâ fî l-fanâ". In seinen besten Konzerten zelebriert es Neil Young.
Mit diesem Buch in Kontrast tritt die zweite Veröffentlichung von Kermani, der Essay Dynamit des Geistes, im Untertitel Martyrium, Islam und Nihilismus, der Hintergründe sucht zu den Anschlägen vom 11. September 2001. Was auf Anhieb grundlegend inkompatibel wirkt, ist verbunden durch geheime Entsprechungen und Bezüge.
Kermani erzählt drei Geschichten, wobei die eine, erste besondere Ausführlichkeit verdient, weil sie hierzulande wenig bekannt ist. Es geht um die Begründung des Schismas von Sunniten und Schiiten am 3. Oktober 680, als der Kalif von Damaskus vor den Toren Kerbalas, Hussein, den Statthalter Mohammeds, besiegte und dessen Leiche schändete. Der ungleiche Kampf, die bestialische Untat besiegelten eine Feindschaft, die sich in der religiösen Praxis bis heute ausdrückt. Sanftheit im Auftreten (wie sie Hussein auszeichnete) sowie Opferbereitschaft und Märtyrerkult zeichnen den Schiismus aus, während der Sunnismus derlei nicht kennt.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Terrorakt vom 11. September in einem eigentümlichen Zwielicht. Der Sunna-Schia-Gegensatz gerät durcheinander in den diffusen Erklärungen der Exponenten von al-Qaida, worin so etwas wie Gleichgültigkeit gegenüber den islamischen Traditionen sich ausdrückt, die Selbstmordaktionen nicht billigen. Kermani nimmt eine zweite Geschichte zu Hilfe: den an Nietzsche geschulten "aktiven Nihilismus", der das Wirken etlicher, im Grunde unpolitischer Terrorgruppen zu prägen scheint. Ihre Mitglieder rekrutieren sich fast durchweg aus gebildeten, städtischen Mittel- und Oberschichten, denen die elementaren Nöte der Unterschicht fern sind. Was mit vagen Parolen legitimiert wird, ist im Kern ein individueller Reinigungsakt, der einen pathologischen Hass besiegelt. Vor dem Hintergrund der dritten Geschichte, der elementaren Ungleichheit auf der Welt, funktioniert dieser Akt als politisches Fanal. Dabei, betont Kermani eindringlich, sei zu beachten, dass die urbane Lebensart echt, die archaisch-religiöse Gesinnung dagegen Maske, Kostüm sei.
Abschließende Erklärungen will Kermani nicht liefern, sondern nur Muster für ein besseres Verstehen. Indem er präzise und anschaulich Hintergründe aus der islamischen Kultur darlegt, gelingt es, gerade das Unislamische am Akt vom 11. September zu zeigen. Unterschwellig gibt es eine Internationale des radikalen Nihilismus, die aus ihren spezifischen kulturellen Kontexten herausgewachsen ist und einem schwer definierbaren, pathologischen Messianismus huldigt. In diesem Punkt sind sich al-Qaida, Christian Patriots und Aum-Sekte durchaus ähnlich.
Hier Neil Young, da zeitgenössischer Terror: zweimal stellt der aus Iran stammende, in Deutschland aufgewachsene Navid Kermani unter Beweis, dass modernes Denken die alten Schablonen verlassen muss, soll es helfen, die Welt etwas besser zu verstehen.
Navid Kermani: Das Buch der von Neil Young Getöteten. Ammann Verlag, Zürich 2002.176 S., 16 EUR
Navid Kermain: Dynamit des Geistes. Martyrium, Islam und Nihilismus. Wallstein Verlag, Göttingen 2002. 72 S., 14 EUR
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