Alle Staaten der Erde sind in der UNO versammelt. Alle Staaten? Nein! Ein biegsames Volk in den Alpen hat bisher dem Gemeinsinn getrotzt. Durch die tägliche Einnahme des Zauberworts "Neutralität" hat es sich für unschlagbar gehalten. Doch jetzt, im Jahre 2002, ist es von Verrätern in den eigenen Reihen besiegt worden.
Seit dem vergangenen Wochenende ist die Schweiz Teil der Weltgemeinschaft. Die Bevölkerung hat sich mit 55 Prozent Ja-Stimmen für ihren Beitritt zur UNO entschieden. Dort herrscht darüber eitel Freude. Kofi Annan hat die Schweiz herzlich willkommen geheißen, und der Generaldirektor des UNO-Sitzes in Genf meinte, jetzt erst seien die Vereinten Nationen wirklich universell.
Doch bis es soweit hat kommen können, war eine Zitterpartie
Zitterpartie zu bestehen. Besonders die Mehrheit der Kantone blieb bis zuletzt umstritten. Mit zwölf zu elf fiel sie denkbar knapp aus, ein paar hundert Stimmen verhinderten ein neuerliches "Grounding". Bei einer Volksinitiative sieht das Schweizer Recht ein doppeltes Ja von "Volk" und "Ständen", also Kantonen, vor. Dieses Instrument, einst geschaffen zum Schutz der kleinen (katholischen) Kantone, hat sich zu einem veritablen Blockade-Instrument entwickelt. 25.000 Urner besitzen vor dem "Ständemehr" gleichviel Stimmkraft wie 800.000 Zürcher. Dennoch Ende gut, alles gut? "Wie man´s nimmt", lässt sich auf schweizerische Art antworten. Es bleiben Fragen, nicht nur, was den hartnäckigen Widerstand gegen eine Selbstverständlichkeit wie den UNO-Beitritt betrifft. Das knappe Resultat wird zwar kaum Wunden hinterlassen, doch der Graben zwischen Stadt und Land, der sich aufgetan hat, muss zu denken geben. Während die französischsprachigen Kantone sowie die Agglomerationen in der Deutschschweiz zustimmten, lehnten die Landregionen in der Inner- und Ostschweiz sowie das Tessin einen UNO-Beitritt teils massiv ab. Mythos vom Sonderfall"Möchten Sie Teil der Welt sein?" Diese Frage hat Max Frisch so nicht gestellt, in seinem Fragebogen nur mitgemeint. In dieser Form wäre sie ihm als Gemeinplatz erschienen. Doch sie ist berechtigt. Der von Mythen umflorte Glaube an den Sonderfall Schweiz lebt hartnäckig fort - gemäß Schillers Vers "Der Starke ist am mächtigsten allein". Sein verhängnisvolles "Wilhelm Tell"-Spiel lastet noch immer als schwere Hypothek auf diesem Land. So war in der UNO-Diskussion immer wieder zu vernehmen, dass "wir Schweizer" halt etwas Besonderes seien: wir sind wir und anders als andere, irgendwie. Die Schweiz, ein Réduit der Sauberkeit und des Fleißes, bewohnt von lauter rechtschaffenen Bürgern. "Wo Berge sich erheben, wie Bretter vor dem Kopf", ist Niklaus Meienberg dazu eingefallen. In ländlichen Gegenden und in den Alpentälern lebt die egoistische Aufrührigkeit im Geiste Tells fort. Hier wird beim Kartenspiel noch tüchtig auf den Tisch geklopft, das lässt sich keiner von niemandem nehmen, zuletzt von der UNO. Dafür sind die Meinungen meist schon im voraus gemacht. Konservative Blockstimmen. Diese kuriose Bewusstseinslage regt dazu an, politisch mit Appellen an nationale Ressentiments auf ein Ständemehr zu spielen. Die Rechte ist darin bestens geübt. "Chumm Bueb und lueg dis Ländli aa!" zitiert Christoph Blocher die erste Strophe eines Volkslieds, um "diesem Völklein", wie er es gerne verniedlicht, die zweite weltoffene Strophe vorzuenthalten. Neutralität in der Schweizer SeeleEin zweites hat die UNO-Auseinandersetzung gezeigt: ein bedenklich tiefes Gesprächsniveau. Auf Seiten der Gegner war viel von "ewig währender" (Gesinnungs-)Neutralität und Zwang zum UN-Militärdienst die Rede, zaghaft wurden auch Einwände gegen die Funktionsmechanismen innerhalb der UNO (Veto-Recht) vorgebracht. Dem hatten die Befürworter, in deren Reihen Bundesrat, Parlamentarier von links bis rechts sowie die vereinte Wirtschaft zusammen fanden, nur wenig Inspiratives entgegen zu setzen. Manierlich wurde belegt, dass die Schweiz längst in den meisten UN-Unterorganisationen aktiv mitwirkt, mitfinanziert und mit "guten Diensten" positive Impulse setzt. Demnach sei ein Beitritt die logische Folge, die auch ein Mitbestimmen erlaube. Zudem ist Genf der zweitgrößte UNO-Sitz neben der New Yorker Zentrale, und die Neutralität selbstredend nicht in Gefahr. Nur das helvetische Bessermenschentum durfte nicht wirklich zur Debatte stehen. Die knappen Prognosewerte erlaubten weder mutige Ein- noch Ausfälle. Von Kritik gegen Globalisierung und Nivellierung ganz zu schweigen, da diese von den Rechthabern beider Seiten in den schärfsten Spielarten befürwortet werden. "Vorzeitige Versöhnungen" (Ludwig Hohl) wollen in der Schweiz nicht ohne Not zerstört sein. Neutralität, mag sie heute als Relikt aus früheren Tagen angesehen werden, hat die Schweizer Seele geprägt. Sie ist eine Mischung aus Arroganz und Kleinmut, diskreter Zurückhaltung und mangelnder Selbstkritik. Sie äußert sich in einer wattierten Diskussionskultur, die zuweilen wohltuend sachlich, oft aber auch erschreckend konfliktfrei funktioniert. Nationale Emotionen (in Verkleinerungsform) sind erlaubt, doch intellektuelle Konfrontationen werden lieber neutralisiert, weil inhaltliche Angriffe gern als persönliche empfunden werden. Deshalb rieten PR-Berater den UNO-Befürwortern zu spröder Sachlichkeit, auch wo um unsinnige Neutralitäts-Auffassungen gefeilscht wurde. Am Ende hat es sich knapp ausbezahlt. Tags darauf hallen die verhaltene Freude der Sieger und Blochers säuerliches Schmollen nach, dazu winken ein paar phantasielose Plakate. Immerhin darf nun laut geäußert werden, dass die Konfrontation im Grundsatz peinlich und borniert war, so dass die Linke sich mit Recht gar nicht erst aktiv einmischte. "Empfinden Sie die Welt überhaupt als heimatlich?" fragte Max Frisch. Eine zaghafte Antwort hat die UNO-Abstimmung gegeben. Doch die nächste Nagelprobe steht bevor: Europa, das bekanntlich die Schweiz umgibt. Zu hoffen ist nur, dass die Diskussionen darüber an Niveau und Gehalt gewinnen. Dass der Beitritt zur UNO eine Einkehr der Normalität signalisiert.