„Während im spiegel / jenes beharrlich sanfte V der ohren noch serpentinenlang zu sehen war, / ein victory, vittoria, victoire“, dichtet Jan Wagner in einem Gedicht aus den Regentonnenvariationen, deren großen Erfolg niemand vorhersehen konnte. Als erster Gedichtband überhaupt ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, sind die Regentonnenvariationen inzwischen bei einer Auflage von sagenhaften 35.000 Exemplaren angelangt. Der Band steht weiterhin auf der Spiegel-Bestsellerliste (die dieser Tage ungewöhnlich literarisch ambitioniert daherkommt). Und Jan Wagner wird am 22. April in Fellbach den Mörike-Preis entgegennehmen. Das „beharrlich sanfte V der Ohren“ könnte man also auch als einen kleinen Sieg der Gattung lesen, umso mehr, als Jan Wagner seit seinem Erfolg es sich zur vornehmen Aufgabe gemacht hat, auf die äußert lebendige deutschsprachige Lyrikszene aufmerksam zu machen.
Harmonisierungsverdacht
Einen guten Überblick bietet das 30 Jahre alte, inzwischen im Zweijahresturnus erscheinende Jahrbuch der Lyrik. Dessen Herausgeber Christoph Buchwald hat sich – das mache ihm erst mal einer nach! – seit dem ersten Band durch gut 187.500 Gedichte gelesen. Für das aktuelle Jahrbuch hat er aus rund 7.000 Einsendungen einen überraschenden Querschnitt zusammengestellt. Inwieweit Nora Gomringer, die diesmal die Rolle des wechselnden Mitherausgebers bekleidete und deren eigene Lyrik das Komische und Handfeste nicht scheut, ihre Finger bei der Auswahl der vielen amüsanten Gedichte des Bands im Spiel hatte, bleibe dahingestellt. Scharf pointierte Gedichte wie „An Krüger“ von Friedrich Ani, in dem es heißt „Das kann mir niemand erzählen, dass einer weiß, was in Gedichten / steht, zwischen den Versen oder dahinter. Niemand weiß das so gut / wie das Wort. Das Wort aber, das / Wort, es steht, schau doch, / vollkommen unnahbar da und lässt sich umringen von / blicklosen Gedanken“ dringen zum Kern der Lyrik vor.
Auch der Reim selbst, der ja ein Indikator für ein Gedicht ist, der aber auch unter Abnutzungs- und Harmonisierungsverdacht steht, wird in einem der Gedichte unter die Lupe genommen. Das amüsant-polemische „Nie wieder Baum auf Traum --- Vitaminstöße für Reimlyriker“ von dem sonst eher als Prosaautor in Erscheinung tretenden Ulrich Holbein ist ein veritables Ventil für die Wut gegen überkommene Reime: „Normal-Lyriker verwenden bevorzugt Reime, / die im Reclam-Reimlexikon stehn – und um Nichtverwendung flehn […] Nehmt doch einfach mal meine Reime, Wulf und Durs, / und macht was draus: Hodensack auf Schabernack! Asterix auf Kruzifix! / Wollgras auf Vollgas! Comeback auf Speck! Milieus auf porös! Debussy auf BBC!“
Bleiben wir noch etwas bei Nora Gomringer. Die 1980 geborene Tochter von Eugen Gomringer hat mit Morbus den zweiten Band ihrer Lyriktrilogie Monster – Morbus – Mode vorgelegt, ein Projekt, das sich der Erforschung von Oberflächen widmet. Der Band ist über weite Strecken ein humoristisches Brevier zum Umgang mit Krankheiten. Enstanden sind Gedichte, die spielerisch mit den großen Tabus unserer Zeit umgehen und zudem witzig und subtil illustriert sind; der Band ist in Zusammenarbeit mit dem Grafiker Reimar Limmer entstanden.
„Doch kann in einer einzigen Minute eine Kanone alles zerschmettern, umstoßen und gänzlich vernichten: eine Krankheit, die unseren Künsten nicht bekannt ist, deren unsere Vorsicht sich nicht versieht“, dichtete John Donne 1627 und brachte damit auf den Punkt, mit welcher Plötzlichkeit Krankheiten ein Leben auf den Kopf zu stellen wissen. Indem sie Fakten und Fantasien raffinert verschränkt, findet seine Nachfahrin Gomringer einen Weg, die Krankheit ein klein wenig in Schönheit zu verwandeln. In „Plumbum“, einem Gedicht, das sich der Depression widmet, dichtet Gomringer: „der schwarze Hund / das Kleid aus Blei / die Nacht im Gefieder / das Wesen aus Nebel / der Weg aus Wegen / die Fragen aus Leder“ und nähert sich so einem Zustand an, den man wohl schwerlich ganz begreift, wenn man ihn nicht erlebt hat. Wie immer hat Gomringer auch eine CD eingesprochen, auf der man ihre Gedichte hören kann.
Körperbilder
Mit Konventionen und Tabus spielen auch die Gedichte der 1980 geborenen Carolin Callies. Der Titels ihres Debütbands, fünf sinne & nur ein besteckkasten, umschreibt prägnant die Herausforderung, vor der jeder Künstler steht: Er muss mit dem begrenzten Instrumentarium der Sprache umgehen. Programmatisch für die Sammlung ist das Auftaktgedicht „der körper ist ein geschichtenband“. Wie Gomringer macht sich auch Callies an die Erkundung des menschlichen Körpers. Da heißen Gedichte dann auch schon mal „eintrag ins handbuch der versehrten (s. Räude, s. Krätze)“ oder „vom logieren innerhalb eines fleischfarbenen lappens“. Montage und Collage – das von Ror Wolf gestaltete Umschlagbild deutet es an – sind zentrale Techniken von Callies, was ihre Gedichte aus peinlicher Unmittelbarkeit hebt. Sie zerlegt den Körper gründlich, seziert ihn zur besseren Kenntlichkeit. Und wie bei Gomringer kreist eines des Gedichte um „lepra“, allerdings so, dass die Verse ein wenig klingen, als hätte man Gottfried Benns Morgue-Gedichte von einem Surrealisten umdichten lassen: „& gestern erlagen wir der lepra & heute, heute singen wir davon: / von den seilsträngen, dem husten / & den vollgesogenen tüchern & heute / ist der arzt ein versoffenes tier. / in fahrigen nächten erlagen wir / den mullbinden im verbandskasten“. Callies und Gomringers Gedichte räumen rigoros auf mit den glatten, makellosen und perfekten Körpern, mit jeder Form von Selbstoptimierungs- und Unsterblichkeitswahn.
Um Körperbilder und Körperlichkeit kreisen auch die Gedichte von Rike Scheffler. Die 1985 in Berlin geborene Lyrikerin und Musikerin, die zum Lyrikkollektiv G 13 gehört, stellt ihren Gedichtband Der Rest ist Resonanz unter ein Motto von Sappho: „some men say an army of horse and some man say an army on foot and some man say an army of ships is the most beautiful thing on the black earth. but i say it is what you love.“ Resonanz, das verstärkte Mitschwingen eines schwingfähigen Systems unter zeitlich veränderlicher Einwirkung, charakterisiert ein Ziel und eine möglicherweise beabsichtigte Wirkung dieser Verse, die Landschaft und Erinnerungen an eine vergangene Liebe so verweben, dass diese Liebe in den Versen noch einmal Gestalt annimmt. Von fern grüßt die wilde Unabhängigkeit eines Huckleberry Finn, wenn es im dritten Gedicht des ersten Zyklus unter dem Titel „Angenommen aber“ heißt: „ein boot bauen, / auf den see, an regentagen darunter schlafen“.
Die Floßfahrt, die Huck mit dem schwarzen Sklaven Jim den Mississippi hinunter unternimmt, wird hier vorstellbar. Dann heißt es bei Scheffler weiter: „sich anschmiegen, an einen körper. / von dort kommt alles her. verstehen kann man jetzt, / ohne angst den kiefer liegen lassen, offen auf einer brust, / die auffällig dünn ist, die aber trägt. wie ein stück steg. / von hinten schleicht es sich an, das fallen, einander gefallen, / den mund weiter auf, um verlauten zu können: zufall, oder: / stimmt, ich hab es so gewollt“.
Ist Zufall oder Entschiedenheit die Grundlage dieser Gedichte? Ist hier die Rede von Natur- oder Sprachlandschaften? Und überhaupt, wer spricht: Mann oder Frau? Das erste der „Angenommen aber“-Gedichte, in denen kein Ich, sondern ein „man“ spricht, enthält den Vers „man ist ein frau“. Rike Schefflers Spiel mit den Freuden des Draußenseins ist auch ein Spiel mit Rollenklischees und -zuschreibungen: „man schert aus, schert fährten ins moos, /spielt mit messerchens schneide, / schätzt sein gewicht, das eigene geschlecht, / das ist gefährlich, so fern von see.“
Und last, but not least, Elke Erb. Die 1938 geborene Dichterin erhält am 8. Mai den Anke-Bennholdt-Thomsen-Preis für Lyrik. Im roughbooks-Verlag des unermüdlich im Dienste der Lyrik stehenden Verlegers Urs Engeler ist eben der Band Sonnenklar erschienen. Er vereint Gedichte und Prosagedichte aus mehr als vier Jahrzehnten, von denen die frühesten 1968 entstanden sind, die jüngsten stammen von 2014. Erbs Gedichte sind Momentaufnahmen (die Autorin hat dieses rasche, assoziative Schreiben zum Beispiel auch in ihrem 2008 veröffentlichten Band Sonanz ritualisiert, für den sie im Lauf zweier Jahre als tägliche Übung entstandene Fünfminutennotate aufgeschrieben hat).
Elke Erb, die viele Lyriker und Lyrikerinnen als Mentorin kritisch begleitet hat und begleitet, schafft es in ihren Gedichten, das Absichtslose mit der Reflexion und der genauen Alltagsbeobachtungen zu so zu verbinden, dass es unser oft so müdes Bewusstsein weckt und schärft: „Sonnenklar: Es gehört sich nicht, daß man ausgefüllt ist (wie das Vieh, viehgleich sich umtreiben lässt …)“. Offen bleiben, die fünf Sinne schärfen, das kann man mit all diesen lyrischen Neuerscheinungen einüben.
Literatur
fünf sinne & nur ein besteckkasten Carolin Callies Schöffling 2015, 112 S, 18,95 €
Sonnenklar Elke Erb Roughbooks 2015, 96 S., 10 €
Morbus Nora Gomringer Voland & Quist 2015, 64 S., 17,90 €
Der Rest ist Resonanz Rike Scheffler Kookbooks 2014, 72 S., 19,90 €
Regentonnenvariationen Jan Wagner Hanser 2014, 112 S., 15,90 €
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