Mit „Emigration“ hatte Christian Kracht seine Frankfurter Poetikvorlesungen überschrieben. Ein passender Titel für die Rede über das Werk des 1966 in der Schweiz geborenen Autors, das sich bereits mit dem Debut „Faserland“ (1995) auch als ort- und rastlose Reiseliteratur zu erkennen gab, indem es die Odyssee des ennuierten Erzählers durch Deutschland beschrieb. Sie beginnt im Norden und endet in der Schweiz, in einem Boot auf dem Zürichsee, ohne festen Boden unter den Füßen, und, so sieht es im Abstand des damaligen Erscheinens und nun auch vor dem Hintergrund der Frankfurter Poetikvorlesungen aus, auf der Oberfläche eines Gewässers, auf dessen Grund vieles unsichtbar hinabgesunken ist. Wer sie gehört hat, blickt anders auf die „Oberfläche“ der Texte. Und scheint nun nicht manches anders vom Grund herauf? Für den Emigranten Kracht war die Schweiz jedenfalls „keine Lösung“, er lebt heute in Los Angeles. In einer empathischen Lesung von Gedichten Allen Ginsbergs am Ende seiner Vorlesungsreihe -- „America, the plum blossoms are falling“ -- vernahm man auch die „Trauer um Vergänglichkeit und Verfall“, von der Kracht eingangs gesprochen hatte.
Die Vorlesungen werden traditionell mit einem Abend im Literaturhaus beschlossen, dessen Gestaltung dem Autor obliegt. Kracht entschied sich für eine Lesung aus seinem jüngsten Roman „Die Toten“ (2016). Es herrschte während der neunzig Minuten Lesung die konzentrierte Ruhe, die auch während der drei Abende der Poetikvorlesungen im Audimax der Johann Wolfgang Goethe-Universität bestimmend gewesen war. Begonnen hatten sie mit einem schockierenden Bekenntnis. Bislang bekannt für seine Zurückhaltung im Biographischen, hatte Kracht seine Missbrauchserfahrungen als Schüler des kanadischen Lakefield College offengelegt und damit Aufmerksamkeit weit über die im Urteil über sein Werk gespaltene Literaturszene erregt.
Das Unzensierte zum Vorschein bringen
Während der unauffällig gestisch untermalten Lesung im Literaturhaus erlebten dann die Zuhörer der vorangegangenen Abende, welche Möglichkeiten dem Format „Poetikvorlesung“ innewohnen, wenn ein Autor es versteht, aus der Reflexion derart Funken zu schlagen, dass sich den Lesern und Interpreten ungekannte Bezüge herstellen. In ihrem Wechsel von Bekenntnis und Parodie, Entblößen und Verschließen, Erhellen und Vernebeln, hörte sich der Schluss von „Die Toten“ gänzlich „neu“ an. Die Träume der Protagonisten in „Die Toten“ verpuffen, die Figuren gleiten desillusioniert ins Vergessen oder ins Totenreich hinüber, dorthin, wo der Autor einen Ausgangspunkt seines Schreibens verortet hatte. Man konnte an Krachts Ausführungen denken, in denen er über die Re-Lektüre seiner Romane vor Beginn der Vorlesungen gesprochen hatte. Er habe die gelungenen Stellen dort gefunden habe, wo ein Text sich ins Totenreich, in den Traum oder den Zustand des Kindes begebe, dorthin, wo man sich von der Vernunft nicht zensieren lasse.
Das Unzensierte zum Vorschein bringen: Die Psychoanalyse könnte einen plausiblen Schlüssel zum Kracht’schen Werk liefern. Auf sie hatte sich der Autor indirekt im Übrigen nicht erst in der zweiten Vorlesung bezogen, in der er über Begehren und Subjektwerdung sprach und damit psychoanalytische Schlüsselbegriffe umkreiste. Bereits am ersten Abend konnte man den Verweis erkennen: Zum einen im Bezug auf Klaus Theweleits „Männerphantasien“, jene bahnbrechende Studie über den soldatischen Charakter, zum anderen in der Kracht’schen Deutung des Missbrauchs als Urszene seines Schreibens, mit dem er unbewusst versucht hat, die Motivation seines Peinigers sprachlich zu fassen.
Als zwölfjähriger Junge im Lakefield College von dem 2009 verstorbenen Pater Keith Gleed geschlagen und gequält, hatte Kracht als Kind, nicht zuletzt durch die Bagatellisierung des Erlebten seitens seiner Eltern, die entsprechende Hinweise ihres Sohnes als Produkt seiner Phantasie deklarierten, ins Unbewusste verschoben. Angestoßen durch das Publikwerden des Weinstein-Skandals im Herbst 2017 und den dadurch motivierten Protest ehemaliger Lakefield College-Mitschüler die den Missbrauch öffentlich machten, kam Kracht zu dem Schluss, es habe sich auch bei seinen Erinnerungen an den Missbrauch, bei dem der Pater ihm den nackten Hintern geschlagen und sich hinter dem Rücken des vornüber gebeugten Jungen selbst befriedigt habe, eben nicht um false memory gehandelt. Dieses durch Impulse von außen ins Bewusstsein zurückgeholte Trauma habe er, als ein Movens seines Schreibens verstanden, das in der Schilderung von Grausamkeit, Ekel, Unterwerfung, scheiternden Beziehungen, homoerotischem Begehren und den kaum vorhandenen bzw. plastisch werdenden Frauenfiguren Ausdruck gefunden habe.
Nach Krachts Explikation dieser medial durch Zeitungsartikel ausgelösten mémoire involontaire, waren die Reaktionen auf die erste Poetikvorlesung nachvollziehbar bewegt, zum Teil irritiert. Dass diese Lesart, durch die seine Romane als un- oder halbbewusste Analysen von Missbrauchsstrukturen und seinen psychischen Folgen erscheinen, neben dem realen Entsetzen darüber auf der Ebene der Interpretation andere, bislang vorgeschlagene Lesarten sozusagen in die zweite Reihe zu verwiesen, erzeugte auch den Eindruck, als nähme der Autor eine Reduktion der Komplexität seines Werks vor.
Wider den tierischen Ernst
Zur zweiten Vorlesung am Pfingstsamstag – den Termin im Umfeld jenes christlichen Festes, an dem der Heilige Geist über die Jünger kommt, kann man sich für die Vorlesung schwerlich passender denken –, konterkarierte Kracht dann den traurigen Ernst des Missbrauchs, insofern er die Parodie als zentrales Element seines Schreibens stark machte, und das schon indem er das Publikum in Frankfurt begrüßte, er könne über Frankfurt nur Gutes sagen – ausgerechnet er, der seinen Erzähler in „Faserland“ die Stadt nach allen Regeln der Kunst lustig beschimpfen lässt.
Entscheidend war aber am zweiten Abend der Satz: „Alles, was sich selbst zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie, auch diese Vorlesungsreihe“. Man konnte regelrecht greifen, wie sich die Betroffenheit angesichts des schwerwiegenden Missbrauchsbekenntnisses ein Stückweit zum leise irritierten „Und wohin nun damit?“ wandelte. Ja, wohin damit? Die Erinnerung mag sprechen, aber sie folgt ihren eigenen Gesetzen.
Indem Kracht sich auf Sophia Coppolas Film „Marie Antoinette“ berief, in dem die Kamera über endlose Paare von stoffbezogenen, schnallenverzierten Schuhen in allen Farben fährt, um nur wenige Sekunden lang an einem paar lilafarbener Chucks hängenzubleiben, ehe sie weiter die historisch korrekt nachgebaute höfische Szenerie abfilmt, stellte Kracht nicht nur den direkten Bezug zur ersten Vorlesung her. Dort hatte er das Korsett der deutschen Sprache, der „Sprache Adolf Eichmanns“, das er vergeblich zu verlassen versucht habe, als enger als das von „Marie Antoinette“ bezeichnet. Auch der Bezug zu einer Passage aus „Die Toten“ läge nahe, in der es vom Filmemacher Emil Nägeli heißt: „Er muss sich etwas Neues ausdenken, etwas noch nie Dagewesenes, es muß fehlerhaft sein, ja exakt das ist die Essenz […] Er muss etwas schaffen, das sowohl in höchstem Maße künstlich ist, als sich auch auf sich bezieht […] nun muss er etwas Pathetisches herstellen, […] artifiziell […] und vom Publikum als manieriert und vor allem als deplatziert empfunden […].“
Der Schritt zurück ins Werk -- auch an diesem Beispiel zeigt sich, wie Kracht, wie seine vexierspielhafte Poetik weniger explizierte als performte. In der Apologie des Fehlers, aber auch im Heranziehen von literarischen Gewährsmännern wie T. S. Eliot (der „Hochstapler, der eines der besten Gedichte des 20. Jahrhunderts hervorhgebracht hat“) oder Thomas Pynchon hatte sich Kracht Referenzwerke ausgesucht, deren Autoren ihre Biographie unter Verschluss zu halten suchen. Leben und Werk bilden ein undurchdringliches Gewebe, werden zu einem sich ineinander spiegelnden Gebilde, in dem die Affekte und Effekte, die Ursachen und Wirkungen ineinandergreifen.
Trug Kracht nicht Schal und Mantel, wie sein Protagonist Masahiku Amakasu, als er am Meer einen Selbstmord beobachtet, der dann doch keiner ist? Und wie sind die abgrenzenden Bezugnahmen auf das Porträt der Vorlesungsplakate, zusammenzudenken mit dem lobenden Karl-Ove Knausgård-Zitat auf dem Cover von „Die Toten“, eines Autors, der das autobiographische Schreiben bis an die äußerste Grenze auszureizen versucht hat?
Pathos des Vergänglichen und Flüchtigen
Vieles Gesagte und das Beiwerk der Vorlesungen unterstrich, wie Christian Krachts Poetik des kalkulierten „Fehlers“, um eine Poetik die nach Quantenverschränkungen und kognitiver Dissonanz strebt. Ganz sicher ist sie eine der Genealogie totalitärer Strukturen und Charaktere (und sich damit in die Tradition von Romanen wie Robert Walsers „Jakob van Gunten“, Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ oder Mario Vargas Llosas „Die Stadt und die Hunde“ stellt), eine des Unbewussten, eine Poetik der Parodie, in der die Ähnlichkeit zwischen der Filmkamera und dem psychischen Apparat zu beleuchten ist, in der das „camera eye“ und das „I“ des Erzählers in Wechselbeziehungen stehen, aus denen ein Werk hervorgeht, in dem es wiederum vor Reminiszenzen an das Medium Film und unzählige Filme wimmelt. Sie ist eine Poetik, die das „Pathos des Vergänglichen und Flüchtigen“ feiert, die einen sich unendlich verzweigenden, Raum und Zeit transzendierenden Kosmos feiert, den ihr kluger, zurückhaltender und in aller Melancholie und Härte stets auch amüsiert wirkender Autor erschaffen hat.
Vor allem aber ist sie eine Poetik, die Interpreten darauf hinweist, dass jeder literarische Text seine ureigene Wirklichkeit erzeugt, welche Codes man auch zur Deutung heranziehen mag. Christian Kracht hatte zu Beginn der Vorlesungen George Steiner zititiert, der die deutsche Sprache in ihrer „Fähigkeit zum Lieben und Bauen, zum Zerstören und Vernichten“ zitiert hatte. Mit seinen Vorlesungen hat Kracht Vermögen und Grenzen der Sprache, die Spannungen zwischen Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und Traum, Trauma und Heilung aufs Produktivste mit seinem bisherigen Werk verwoben. Man wünscht sich eine Veröffentlichung der Vorlesungen, die derzeit noch in den Sternen steht.
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