Zeruya Shalevs Prosadebüt „Nicht ich“: Ein schmerzhafter Prozess
Verwandlung Mit dem Roman „Liebesleben“ erlangte die israelische Autorin Zeruya Shalev internationale Bekanntheit. Jetzt liegt ihr eigenwilliges Prosadebüt „Nicht ich“ aus dem Jahr 1993 auf Deutsch vor. Beate Tröger hat es gelesen
Traum- und Albtraumsequenzen lösen einander in „Nicht ich“ von Zeruya Shalev ab
Fotocollage: der Freitag; Material: plainpicture/Spitta/Hellwig, iStock
Im Jahr 2000 erschien der Roman Liebesleben in der deutschen Übersetzung. Seine Autorin, die 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geborene Zeruya Shalev, hatte ihn 1997 im hebräischen Original veröffentlicht. Liebesleben erzählt die Geschichte der Bibelwissenschaftlerin Ja’aara, die mit einem Freund ihres Vaters eine zerstörerische Affäre beginnt, aus der sie sich schließlich befreit: durch den Rückzug in die Bibliothek, ihre wissenschaftliche Arbeit. Befördert durch den frenetischen Jubel des Literarischen Quartetts unter Marcel Reich-Ranicki, später verfilmt von Maria Schrader, wurde Liebesleben zum Longseller, der nichts von seiner düsteren Anziehungs- und Überzeugungskraft verloren hat und die Aufmerksamkeit für S
n hat und die Aufmerksamkeit für Shalevs nachfolgende Romane garantierte.Dreißig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung hat der Berlin Verlag nun den Vorgänger von Liebesleben, den 1993 erschienenen Roman Nicht ich in deutscher Übersetzung publiziert. Shalevs Prosadebüt erzählt aus der Perspektive einer jungen Frau, deren Name im Lauf des Romans wechselt, von einer Trennung. Die junge Varda oder Galia hat für einen Liebhaber ihre Ehe aufgegeben. Doch die Trennung macht ihr Leben nicht besser. Der Liebhaber schläft ein, das Kind ist vom Ehemann in einem Puppenkarton entführt worden, die Mutter ist sauer, während sich der Vater in eine Kuckucksuhr verwandelt.Der Roman folgt keiner stringenten Handlung, er ist vielmehr ein Reigen aus Traum- und Albtraumsequenzen voller Verdichtungen und Verschiebungen, mit harten Brüchen. Er zeigt eine Frau, deren Welt komplett aus den Fugen ist, wie es im Text an einer Stelle mit Verweis auf Shakespeare heißt. Solche Erfahrung, und das weiß der Leser nicht erst seit Hamlet, wo der Dänenprinz sich im Wahn verliert, hat massive Folgen: Die Ich-Wahrnehmung der Erzählerin und der Außenwelt verschiebt sich, als würde sie in zerbrochene oder gleißende Spiegel blicken: „Der Spiegel blendete mich, ich konnte nichts sehen, als würde sie hinter den Spiegeln stehen, als wäre sie selbst und um sie herum alles erhitzt: Die Kreisel aus Blei zerschmolzen den Kindern in den Händen. Wenn ihr auf der Straße ein Kind saht, wusstet ihr gleich, warum.“Überhitzt und verkehrt geht es zu: Der Heiler, den die Erzählerin anfangs mit ihrem Mann aufsucht, leidet unter einer Depression, die Erzählerin hext ihrem Mann ihre Gebärmutter samt Tumor an, die Bereitschaft des Geliebten, der Erzählerin keinen Wunsch zu verweigern, führt dazu, dass sie sich ihm verweigert. Ausbrüche von Wut wechseln sich ab mit Agonie: „Es gab vielleicht einen kurzen Moment, in dem ich einen Begriff von der Zukunft bekam. Da konnte ich ihre Farbe sehen. Plötzlich verstand ich, was das Schlimmste war, von dem alle die ganze Zeit redeten. Ich sah alles, was mich früher glücklich gemacht hat. Ich sah alles, was mich traurig gemacht hat. Und plötzlich war beides identisch, und ich verstand, nichts mehr würde in mir etwas auslösen; alles würde für mich ein und dasselbe sein“. Was genau liegt hier vor, mag man sich immer wieder fragen. Indem man der Erzählerin in ihre Wirrnis folgt, wird man Zeuge des Zustandes, in dem sich eine existenzielle Verwandlung nicht mehr länger aufhalten lässt.Zerzaustes GeschwisterIm Vorwort erzählt Shalev, sie habe mit Nicht ich in einem Moment des Wartens in einem Café begonnen und nicht mehr mit dem Schreiben aufhören können: „Ich gab mich mit Neugierde und Schmerzen dieser Figur hin, die aus mir herausschrie.“ Als der Roman fertig war, sei auch ihre eigene Familie zerbrochen.Man kann Nicht ich also autofiktional lesen und als eine Art der Écriture automatique, wie sie die Surrealisten pflegten. Shalev, die Bibelwissenschaften studierte und in Liebesleben ihre Protagonistin über die Zerstörung des Tempels arbeiten ließ, arbeitet mit den Motiven und Metaphern der Überlieferung. Die Zerstörung im Irdischen ist hier oft mit dem Erreichen von etwas Höherem verbunden, sie ist gewissermaßen der Preis einer existenziellen Verwandlung. So lässt sich die Abkehr der Protagonistin in Nicht ich auch lesen als schmerzhafter Prozess, bei dem die vertraute Familie als Ordnungssystem der Schriftstellerei weichen muss, es findet eine ganz ähnliche Bewegung statt wie in Liebesleben.„Ich, ich muss auf dem Fluss treiben und brauch jemanden, der mir mit dem Fächer die Fliegen verjagt“, liest man mehrfach. Gegen Ende heißt es in einer Variation: „Mir hört sowieso keiner mehr zu, die meisten Gäste gehen schon. Ich will das Rascheln des Laubs hören, das sich von den Bäumen löst und aufs Wasser schwebt. Wer weiß, wie viele andere Tatsachen des Lebens ich nicht mitbekommen habe. Ich werde am Fluss sitzen, unter den kahlen Bäumen, mit geschlossenen Lippen werd ich dort sitzen und alles noch mal von vorne lernen.“ Aus der zerstörten wird eine neue Ordnung erwachsen – mit einem hoffnungsvollen Bild schließt der Roman, der wie das zerzauste, undomestizierte Geschwister des großen Romans Liebesleben wirkt, ihn vertieft.Placeholder infobox-1
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