Während der NS-Zeit wurde Ernst Grube – damals noch ein Kind – verfolgt. Im Jahr 2018 sitzt eben dieser Ernst Grube in einem Altbau, blickt nachdenklich zu Boden und sagt: „Sind wir wirklich so naiv, dass wir meinen, dass diejenigen, die immer mehr Macht bekommen, diese nicht auch ausnutzen? Haben wir denn wirklich nichts gelernt?“ Grube sagt dies in Bezug auf das neue Polizeiaufgaben-Gesetz (PAG) in Bayern in einem Video, das die politischen Künstlergruppen „Peng! Kollektiv“ und „Polizeiklasse“ veröffentlicht haben. Es ist Teil ihrer neuesten Aktion, der sogenannten “Cop Map”. Sie soll einen Überblick über laufende Personenkontrollen liefern, über den Standort von Kameras und Polizeiwachen, Streifen- und Zivilpolizisten, über berittene Polizei und Streifenwagen. Über Computer oder Smartphone kann jeder den Standort von Polizei oder Kameras in eine Karte eintragen.
Anlass für die Aktion ist vor allem das im Mai 2018 in Bayern verabschiedete PAG, das als härtestes Polizeigesetz seit 1945 gilt. „Da hatten wir das Gefühl, jetzt geht es wirklich zu weit“, sagt Nina Los vom Peng! Kollektiv. Mit dieser Meinung ist die Gruppe nicht alleine. Zuletzt gingen Anfang Oktober Zehntausende in München – unter anderem – gegen das Gesetz auf die Straße, ein Protest, der weit in die bürgerliche Schichten hineinreichte. „Wir glauben, jetzt, da sich auch eine breitere Öffentlichkeit kritisch mit dem Thema befasst, kann man versuchen, diese kritische Auseinandersetzung mit den Polizeigesetzen einerseits und der Institution Polizei andererseits zu verbinden.“ Tatsächlich ist Bayern nicht der einzige Fall. Auch in Niedersachsen wird das Polizeigesetz verschärft, in Nordrhein-Westfalen wurde ein viel kritisierter Entwurf zwar überarbeitet, zieht aber nach wie vor Kritik auf sich.
Tobias Singelnstein, Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Ruhr Universität Bochum erklärte jüngst in einem Interview mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung: „Im Wesentlichen sind bei den Reformen der Polizeigesetze drei grundlegende Entwicklungen zu beobachten: Erstens ein Ausbau vor allem heimlicher Überwachungsmöglichkeiten. Zweitens – und das ist besonders zentral – eine erhebliche Vorverlagerung polizeilicher Eingriffsbefugnisse, die nun teilweise schon bei einer nur ,drohenden Gefahr‘ eingreifen. Und drittens eine veränderte Ausstattung der Polizei, teilweise auch mit militärischen Mitteln.“
Gefahr, das sind die anderen
Die Künstlerinnen und Künstler konzentrieren sich vor allem auf die ,drohende Gefahr‘ und drehen mit ihrer Aktion den Spieß um: „Die Polizei wird selbst zu einer Gefahr für Grundrechte, für Freiheit und Demokratie. Für bestimmte Menschen war sie das schon immer, spätestens ab jetzt stellt sie aber für alle eine Bedrohung dar“, heißt es auf der Internetseite der Aktion.
„Wir wollen zweierlei erreichen”, erklärt Nina Los: „Das Hauptziel ist, dass sich Menschen über das Tool schützen können. Dabei können die Möglichkeiten des Internets auch dazu genutzt werden, um eine Bewegung von unten und eine Solidarisierung zu schaffen. Außerdem wollen wir die Debatte um das PAG befeuern, aber auch darüber, dass die Institution an sich eine extrem problematische ist und dass der dort stattfindende Gewaltmissbrauch auch nicht zufällig ist.“
Um zu sehen, was Los mit der „problematischen Institution Polizei” meint, reicht ein Rückblick auf die vergangenen Jahre. Denn knapp 100 Jahre nachdem in der Weimarer Republik der Zwanzigerjahre das Diktum der Polizei als „Freund und Helfer” erstmals eingeführt wurde, präsentiert sich die Polizei in „Tatort“-Deutschland, in dem einige Medien Polizeimeldungen mehr oder weniger unhinterfragt abdrucken und die Polizei auf Twitter herumkumpelt, zumindest für einige Menschen längst nicht immer als Freund und Helfer. So machten nach den G20-Protesten Berichte von Polizeigewalt die Runde. Ende 2017 wurde das bekannt, was Angehörige und Unterstützer-Initiativen bereits geahnt hatten: dass Oury Jalloh, ein Asylbewerber aus Sierra Leone, der 2005 in einer Polizeizelle verbrannte, vermutlich getötet wurde. Im April 2018 berichtete der Deutschlandfunk in seinem Feature „Täter in Uniform“ über Straftaten im Dienst durch Polizisten und wie sie einer Bestrafung häufig entgehen.
Eine gesellschaftliche Dimension
Der Philosoph und Sozialtheoretiker Daniel Loick sieht die Polizei und ihre Rolle in der Gesellschaft ebenfalls kritisch. Er weist auch auf die alltägliche Dimension polizeilichen Fehlverhaltens hin und beobachtet eine Zweiteilung der Gesellschaft, bei der Wahrnehmung der Polizei: „Auf der einen Seite gibt es eine Mehrheitsperspektive derjenigen, die erstens selten mit der Polizei Kontakt haben und wenn, dann meistens, weil sie sie selbst gerufen haben – wegen einer Ruhestörung oder einem geklauten Fahrrad zum Beispiel. Aus dieser Warte wird die Polizei als Freund und Helfer verstanden.“ Doch dann ist da auch die andere Perspektive: „Es gibt andere Gruppen, für die die Polizei überhaupt nicht Freund und Helfer, sondern eher Feind und Ärgernis ist. Schwarze Menschen und People of Colour, arme Menschen, Drogennutzer*innen, Obdachlose, Sexarbeiter*innen. Sie haben häufig jeden Tag Polizeikontakt und würden selbst eher nicht auf die Idee kommen, die Polizei zu rufen, wenn sie Hilfe brauchen. Denn die ist für sie meistens ein Faktor der Schikane und der Repression.“
Ein Beispiel für diese alltägliche Ungleichbehandlung ist für Loick das „Racial Profiling”, was bedeutet, dass Menschen allein aufgrund ihrer Hautfarbe von der Polizei kontrolliert werden. Das sei nicht erlaubt, daher bestreite die Polizei solche Kontrollen und begründe sie stattdessen stets mit „Erfahrungswissen“, meint Loick. „Ich glaube aber, dass man ziemlich leicht sehen kann, dass das nicht stimmt. Man denke an das Frankfurter Bahnhofsviertel. Jeden Tag werden schwarze Menschen auf Drogen kontrolliert – direkt neben den Banken. Da kontrolliert allerdings kein Mensch, obwohl man dort genau so viele Drogen finden würden. Das reine Erfahrungswissen kann also nicht ausschlaggebend sein.“ Vielmehr sei die Polizei Teil von gesellschaftlichen Stimmungen. „Derzeit dominieren Diskurse über Sicherheitsprobleme, bei denen es eine starke Aufladung vom Fremden als gefährlich gibt. Statistisch ist das überhaupt nicht gerechtfertigt, aber es gibt diese Diskurse eben.“ Was als Erfahrungswissen daherkomme seien in Wirklichkeit einfach Vorurteile und Klischees.
Und so haben Maßnahmen wie etwa Personenkontrollen nach äußeren Merkmalen laut Daniel Loick gravierende Auswirkungen. Einerseits für die Betroffenen selbst, denen immer wieder signalisiert werde, sie seien nicht unschuldig. Sie würden daraufhin bestimmte Orte meiden und müssten ständig die eigene Unschuld beteuern. „Gleichzeitg hat das aber auch eine Wirkung auf die Mehrheitsgesellschaft“, sagt Loick: „Im Falle von Racial Profiling wird beispielsweise signalisiert: People of Colour sind gefährlich. Und die Polizei tut etwas gegen die Gefahr. So schreibt sich diese differentielle Funktionsweise bis ins tiefste Denken ein – alleine durch die Tatsache, dass es sich immer wieder so reproduziert.“
Ist das fair?
Diese Mechanismen sind es, die die Karte potentiell sichtbar machen, die sie zur Diskussion stellen soll. Und dennoch bleibt die Frage, ob eine Aktion wie die Cop Map die Fronten nicht vielmehr verhärtet. Selbst im Gespräch mit Betreibern von Hilfseinrichtungen für Obdachlose werden einzelne Polizisten nicht unbedingt als drohende Gefahr dargestellt, sondern mitunter ganz im Gegenteil, als Menschen, denen auch das Schicksal der Obdachlosen am Herz liegt. Und rund um die Proteste im Hambacher Forst meldete sich – zumindest anonym – ein Polizist zu Wort, der den Einsatz ebenfalls für falsch hielt. Am Ende bleibt also die Erkenntnis: Not all Cops are Bastards. Entsprechend kritisierte auch Norbert Cioma, Berliner Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP) gegenüber der Berliner Zeitung unter anderem, dass Polizisten „auf der Plattform unter Generalverdacht gestellt“ würden.
Natürlich gehe es den Machern der Karte vor allem um die Insitution, sagt Nina Los vom Peng! Kollektiv und ergänzt: „Aber die Individuen entscheiden sich natürlich dafür, Teil einer Institution zu sein. Insofern kann man das nicht immer trennen. Natürlich wird es auch in der Polizei nette, gemäßigte Leute geben. Aber auch wenn es innerhalb der Institution Menschen gibt, die z.B. den Rassismus, bestimmte Praktiken der Polizeiwillkür kritisch sehen, ist es für sie aufgrund des Korpsgeistes sehr schwierig oder fast unmöglich diese Struktur zu kritisieren bzw. von innen zu verändern.“ Los erinnert an den anonymen Bericht eines Polizisten, den das Magazin jetzt.de vor rund einem Jahr veröffentlichte und in dem er Korpsgeist, Rassismus und Vertuschungstaktiken innerhalb der Polizei schilderte.
Es geht um die Frage einer falschen Politik
Daniel Loick betrachtet die „Cop Map“ ebenfalls als ein legitimes Mittel: „In diesem Fall sind die Polizisten wohl nicht die zentrale Zielgruppe. Es geht um die Frage, wie man die Eigenständigkeit von polizeilichem Handeln einschränken kann. Und da muss man strukturell etwas verändern.“ Es solle nicht darum gehen, zu individualisieren, sondern sich aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive anzunähern und zu fragen, wie man Sicherheit am besten herstellen könne. „Der Protest gegen das PAG in Bayern richtet sich gegen eine falsche Form, Sicherheit herzustellen – indem sie Sicherheit entweder gar nicht herstellt oder zu viel dafür opfert. Wir wollen die Freiheit nicht opfern. Insofern geht es dann nicht so sehr gegen die Polizei an sich sondern um die Frage einer falschen Politik.“
Nur, wie stellt man all das an? Für Daniel Loick sind verschiedene Aspekte wichtig. So brauche es zum einen eine bessere zivilgesellschaftliche Kontrolle von außen, beispielsweise durch eine Kennzeichnungspflicht, die immer noch nicht in allen Bundesländern in Deutschland eingeführt ist, und durch eine unabhängige Ermittlungsstelle für Fehlverhalten von Polizisten. Denn im Moment ermittele die Polizei gegen sich selbst. „Vor allem aber sollten wir gesellschaftliche Ressourcen von der Polizei weg verlagern – hin zu anderen Bereichen. Wir sollten grundsätzlich davon wegkommen, soziale Probleme polizeilich zu lösen und eher darüber nachdenken, Strukturen der sozialen Teilhabe einzurichten, soziale Probleme gesundheitspolitissch, bildungspolitisch, städtepolitisch oder drogenpolitisch anzugehen.“
In der Tat wäre es notwendig, derlei Debatten zu führen. Im Sinne derer, die heute schon Angst vor der Polizei haben müssen, aber auch im Sinne derer, die sich bislang wenig Gedanken um die Polizei machen mussten, die aber angesichts einer mit immer mehr Befugnissen ausgestatteten Polizei ein zunehmend ungutes Gefühl beschleicht. Und letztlich auch im Sinne einer Polizei, die von möglichst vielen Menschen anerkannt werden will. Diese Fragen gehen schlicht alle etwas an. Wenn die Aktion eine solche Diskussion in Gang bringen würde, wäre bereits einiges gewonnen.
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