Wer etwas von Berlin sehen will, für den lohnt sich eine Fahrt mit der U-Bahn-Linie 1. Von Friedrichshain bis Schöneberg rattern die Bahnen auf einem alten Viadukt, von dem aus man über die Dächer der Stadt blicken kann, auf Wohnblöcke und top sanierte Altbauten, auf die Szenen des Alltags. Unterhalb der Hochbahn geht es nüchterner zu. Der meiste Raum wird als Parkplatz genutzt, andernorts sammelt sich Sperrmüll. Zuweilen heißt es, dort sei Berlins größtes Freilufturinal. Manche stören solche Orte, für andere gehören sie zum Stadtbild.
Die Visionen, die sich hinter dem Stichwort „Radbahn“ verbergen, sehen anders aus. Wenn es nach den Machern geht, dann entsteht unter der Hochbahn ein überdachter Radweg. Fast n
eg. Fast neun Kilometer lang, von der Warschauer Brücke bis zum Bahnhof Zoo, eine Art Radschnellstraße, die Ost und West verbindet. Daneben sollen kleine Cafés entstehen, Fahrradverleihe und Werkstätten sollen sich hier ansiedeln können. Martti Mela ist 36, Chef eines Start-up-Unternehmens und so etwas wie der Vater der Radbahn-Idee. „Sicher haben vorher Menschen schon einmal an so etwas gedacht“, sagt er. „Entscheidend war, dass jetzt wirklich der Bedarf besteht, an der Situation der Fahrradfahrer etwas zu ändern.“ Als das Konzept Radbahn vor einigen Wochen öffentlich wurde, ging es durch die Zeitungen, die Zahl der Facebook-Fans stieg auf inzwischen rund 10.000. Kürzlich wurde die Idee sogar mit dem Bundespreis Ecodesign ausgezeichnet. Das Projekt zeige vorbildlich, wie in bestehendem, aber bislang ungenutztem urbanen Raum neues Potenzial erkannt und in ein ökofreundliches Gesamtkonzept eingebunden werde.Lebenswert und ökologischHinter dem Konzept steht ein Team von acht Leuten. Sie kommen aus Deutschland, Finnland, Kanada, Mexiko und Italien, sind Architekten, Start-up-Gründer oder Stadtplaner. Die Radbahn haben sie in ihrer Freizeit entwickelt, haben an einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit inklusive Hochglanz-Webseite und Social-Media Kampagne gearbeitet und einen strategisch günstigen Augenblick gewählt, um damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Im Jahr 2016 wird in Berlin gewählt. Die Radbahn soll zum Wahlkampf-Thema werden.Hat das Projekt eine Chance? Einige Politiker haben praktische Bedenken. Zu teuer, zu kompliziert, und was passiert mit den Parkplätzen? Trotzdem hat der Berliner Senat reagiert. Auf einmal soll eine Radspur auf der Straße entlang der Bahnlinie eingezeichnet werden. Das kann als Alternative zum überdachten Radweg gesehen werden. Gleichzeitig sollen in den nächsten zwei Jahren aber auch 200.000 Euro in eine Machbarkeitsstudie für die Radbahn gesteckt werden. Es klingt nach den Debatten klassischer Lokalpolitik. Und doch lässt sich an der Radbahn auch erkennen, wie die Städte der Zukunft aussehen und geplant werden.Die Vereinten Nationen schätzen, dass im Jahr 2050 ungefähr zwei Drittel der Weltbevölkerung im urbanen Raum leben, in Europa und Deutschland werde der Anteil sogar bei mehr als 80 Prozent liegen. Die zunehmende Ballung von Menschen verändert die Gesellschaft. Soziale Fragen müssen diskutiert werden, genauso wie Fragen der Mobilität, der ökologischen Nachhaltigkeit und der Gesundheit. Die Stadt der Zukunft, sie soll lebenswert, leicht zu erschließen und umweltfreundlich sein.Für die Macher der Radbahn steht ihr Projekt für all das. Es soll das Klima in der Stadt verbessern, die Gesundheit der Bewohner fördern und die Stadt unabhängig vom Einkommen erschließbar machen. Aber auch die Art und Weise, wie die Macher ihr Konzept zu verwirklichen versuchen, ist zukunftsweisend. Was mit öffentlichem Raum geschieht, wird nicht mehr nur in den Verwaltungsbehörden verhandelt. Natürlich wird es auch weiterhin eine Stadtplanung von oben geben, aber es sind auch die Bewohner selbst, die entscheiden wollen, wie ihre Umgebung gestaltet wird.Die Radbahn ist dafür ein Paradebeispiel: In ihrer Freizeit haben Bürger unaufgefordert ein Konzept erarbeitet, um öffentlichen Raum sinnvoll nutzbar zu machen. Es ist eine zahme Form der Aneignung, mit der sie die Politik aber trotzdem unter Druck setzen – ohne sie in Frage zu stellen. Man begegnet der Verwaltung auf Augenhöhe, auch Bewohner untereinander verstehen sich als Partner. „Wir sind überrascht, wie Menschen uns ihre Hilfe angeboten haben. Das liegt wohl daran, dass die Leute merken, dass es ihre Alltagsebene beeinflusst. So entstehen Projekte, hinter denen die Bürger stehen“, sagt Martti Mela.Es ist eine neue Art, die Stadt mitzugestalten. In Berlin finden sich Beispiele dafür, doch auch andernorts gibt es sie. Als zum Beispiel die Regierung in Hamburg das alte Gängeviertel an einen Investor verkaufte, besetzten Künstler das Areal. Sie fanden: Ateliers und Galerien seien für die Stadt sinnvoller, als wenn ein Großteil abgerissen und durch teure, schick designte Neubauten ersetzt wird. Die Stadt kaufte das Gelände zurück, inzwischen werden die alten Gebäude saniert.Sind die Bürger die besseren Stadtplaner? Perttu Ratilainen hat die Berliner Radbahn mit ausgedacht. Er ist sich sicher, dass es gut wäre, den bislang verschwendeten Raum für die Bürger nutzbar zu machen. „Ich denke, die Bewohner sollten das machen. In der Politik bekommt man mit der Zeit zwangsläufig eine Art Tunnelblick. Doch es sind die Leute, die dort leben, die wissen, was sie brauchen.“Die Bewohner werden zu Experten mit vielen verschiedenen Hintergründen. Architekten, Studenten, Designer, Stadtplaner, Künstler, Aktivisten. Im besten Falle kann daraus eine enge Zusammenarbeit mit aufgeschlossenen Planern in der Verwaltung entstehen.Nicht nur kreative BohemeDoch eine solche Entwicklung kann auch gefährlich sein. Was passiert, wenn nicht alle an den Debatten über die Gestaltung der Stadt beteiligt sind, sondern nur die, die neben ihrer Arbeit noch Zeit und Kraft haben, sich damit zu befassen? Es muss sichergestellt werden, dass auch diejenigen von den Veränderungen profitieren, die nicht ausschließlich zur neuen urbanen, kreativen Bohème gehören.Zudem könnten innovative Projekte wie die Radbahn den Stadtteil aufwerten, die Mieten könnten unbezahlbar werden. Solche Diskussionen habe man in der Planungsgruppe schon geführt, sagt Ratilainen. Er meint aber: „Städte werden sich immer verändern. Das kann und sollte man nicht verhindern. Allerdings gibt es natürlich politische Mittel, dafür zu sorgen, dass es sich alle leisten können, in der Stadt zu leben.“ Das sei jedoch eine andere Debatte. Ohnehin sei das Projekt derzeit noch gar nicht öffentlich mit dem Vorwurf der Gentrifizierung konfrontiert. „Das liegt wohl auch daran, dass der zentrale Aspekt unseres Projektes, die Radbahn selbst, kostenlos für alle verfügbar sein wird.“Bis der Radweg unterhalb der U-Bahn entsteht, wird es wohl noch dauern. Mit der Machbarkeitsstudie hat nun die Politik das Heft in die Hand genommen. Das zeigt einerseits, dass die Bürger tatsächlich Entwicklungen anschieben können, andererseits kann das Projekt auch von der Verwaltung totgeplant werden. Die Macher der Radbahn wollen weiterhin versuchen, das Projekt mitzugestalten. Wie man Diskussionen um städtischen Raum beleben kann, darin haben sie ja nun Erfahrung.
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