An Lehrern mangelt es nicht jeder Schule in Deutschland
Collage: Ira Bolsinger, Material: Getty, Istoc
Gregor Stiels leitet die Grundschule „An St. Theresia“ in Köln-Buchheim, einem Brennpunkt auf der rechten Rheinseite. Rund 200 Kinder aus 40 Nationen kommen jeden Morgen in den Unterricht. Als vor eineinhalb Jahren eine Sonderpädagogin schwanger wurde, musste Stiels eine Studentin anheuern, die neben der Uni lehrt. Eine Fachkraft war einfach nicht zu bekommen. Zu diesem Schuljahr schrieb Stiels zwei Lehrerstellen aus. Einmal bekam er drei Bewerbungen, das andere Mal gar keine. „Es ist verrückt“, sagt der Rektor. „Vor drei Jahren hätten wir noch 90 Zuschriften pro Stelle bekommen und eine echte Bestenauslese für unsere Schülerinnen und Schüler vornehmen können. Jetzt ist das unmöglich.“
So wie Gregor Stiels geht
tiels geht es derzeit vielen Schulleitern. Lehrkräfte werden rar im Land. Die Bertelsmann-Stiftung hat vor einigen Monaten ausgerechnet, dass 60.000 Grundschullehrerinnen bis 2025 in den Ruhestand gehen und ersetzt werden müssen. Weitere 26.000 Pädagogen würden benötigt, um die steigenden Schülerzahlen aufzufangen, 19.000 zusätzliche Kräfte bräuchte es allein für den Ausbau der Ganztagsbetreuung – insgesamt also mehr als 100.000. Die Universitäten dürften im selben Zeitraum aber nur 70.000 Lehramtsstudierende verlassen. Was Schulen derzeit erleben, sind dabei nur die Vorwehen eines Bildungsnotstandes: Den richtig großen Mangel erwarten die Bertelsmann-Forschenden erst in zwei Jahren.Dass die für die Schulen zuständigen Bundesländer auf einen derartigen Engpass zusteuern, ist eigentlich verwunderlich. Theoretisch sollte es ein Leichtes sein, genug Lehrerinnen im Dienst zu haben. Dass die Schülerzahlen wieder steigen, hängt mit der Zuwanderung zusammen, die sich zwar nur in Teilen vorhersehen lässt. Aber auch damit, dass in Deutschland wieder mehr Kinder auf die Welt kommen.Sechs Jahre vergehen von der Entbindung bis zur Einschulung – reichlich Zeit für die Politik also, um neue Pädagogen auszubilden und Stellen zu schaffen. „Aber viele Länder waren in ihrer Planung wie im Blindflug“, bemängelt Dirk Zorn von der Bertelsmann-Stiftung, der die Lehrerstudie mit verfasst hat.Babynahrung als IndikatorEs fängt schon bei den Geburtsstatistiken an. Die Bertelsmann-Autoren haben für ihre Prognose auf die Zahlen von Milupa zurückgegriffen, um die Schülerentwicklung möglichst genau abschätzen zu können: Der Babynahrung-Hersteller telefoniert für seine Marktforschung regelmäßig die Krankenhäuser der Republik ab und ermittelt so in Echtzeit, wie viele Kinder im Land zur Welt kommen. Ehe dagegen die amtliche Geburtsstatistik vorliegt, dauert es mitunter fast ein Jahr – aber nur die dürften die Behörden nutzen. Allein so vergeht viel Zeit für die Planung.Zudem war es bislang keineswegs Usus, den Stellenplan regelmäßig zu aktualisieren. Nordrhein-Westfalen etwa hantierte bis April mit einer Lehrerbedarfsprognose aus dem Jahr 2011, als man noch annahm, dass die Geburtenrate weiter sinkt.Aber selbst wenn die Kultusminister einen Ansturm von Schülerinnen früh genug kommen sehen: Damit ist noch lange nicht gesagt, dass man sich im Wissenschaftsministerium darum bemüht, an den Hochschulen genug Lehramtsstudienplätze einzurichten. In Berlin etwa hatte die Landesregierung mit den Universitäten bisher lediglich vereinbart, dass diese mindestens 1.000 Lehramtsabsolventen jährlich für das Referendariat an den Schulen entlassen sollen. Erst mit den neuen Hochschulverträgen in diesem Jahr erhöhte der Wissenschaftssenat nicht nur die Zahl auf 2.000, sondern legte auch fest, wie viele Absolventen jeweils für welche Schulform vorgesehen sein sollen – damit die Unis nicht Gymnasiallehrer ausbilden, wenn gerade Grundschullehrkräfte gebraucht werden. „Die Lücke ist oft auch eine Folge von schlechtem Handwerk in der Bildungspolitik“, sagt Experte Zorn.Der Mangel trifft dabei nicht alle Schulen gleich. Es sind vor allem Schulen im Brennpunkt wie die von Gregor Stiels in Köln-Buchheim, die von den Lehrerinnen und Lehrern, allerorten händeringend gesucht, als erstes gemieden werden. „Eine Kollegin aus einem bürgerlichen Viertel von der anderen Rheinseite bekommt immer noch 30 bis 35 Zuschriften auf ihre Stellenausschreibungen“, sagt Stiels. „Aber Buchheim ist nun einmal ein knackiges Gebiet.“ Auch Zahlen aus Berlin scheinen diesen Eindruck zu bestätigen, dass gut ausgebildete Lehrkräfte einen Bogen um die Brennpunkte machen: Im vergangenen Schuljahr waren im Problemkiez Neukölln 27,8 Prozent aller neu eingestellten Lehrer Quereinsteiger. Im noblen Stadtteil Steglitz-Zehlendorf dagegen waren es gerade einmal 16,8 Prozent. Das teilte die Berliner Senatsverwaltung im Januar auf eine kleine Anfrage der Grünen mit.Jüngst hat die Bertelsmann-Stiftung eine weitere Untersuchung vorgelegt: Am Beispiel Berliner Grundschulen untersuchte sie, wie ungleich die Schulen vom Mangel betroffen sind. „An Brennpunktschulen mit vielen Schülern, die in Armut leben, unterrichten doppelt so viele Quereinsteiger wie an Schulen, die in privilegierten Stadtteilen liegen“, fasst Zorn zusammen: Wo viele Kinder mit Lernmittelbefreiung lernen, lag der Quereinsteiger-Anteil 2017/18 bei rund zehn, an Schulen mit finanziell besser gestellter Klientel bei nur fünf Prozent. 2016/17 standen 6,7 Prozent in armen 3,1 Prozent in reicheren Gegenden gegenüber. Droht also der Lehrermangel die Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem weiter zu verschärfen?Der neuseeländische Erziehungswissenschaftler John Hattie hatte in einer großen Überblicksstudie vor einigen Jahren darauf hingewiesen, wie entscheidend die Person vorne an der Tafel für das ist, was Schüler aus dem Unterricht mitnehmen: Ein guter Lehrer kennt sich hervorragend in seinem Fach aus, hat hohe Ansprüche und schafft gleichzeitig eine Atmosphäre, in der die Lernenden Fehler nicht fürchten müssen. Der Ökonom Matthias Westphal vom Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung hat kürzlich berechnet, dass die Schülerleistungen während der Bildungsexpansion in den vergangenen Jahrzehnten sanken – allein, weil die Schulen plötzlich viel mehr Lehrer brauchten und auch Kandidaten einstellten, die sie vorher noch abgelehnt hätten. Unterrichten ist kein Job für Jederfrau.Den Quereinsteigern haftet das Bild von Notnagel-Lehrern an, denen es nur um die Verbeamtung und die Sommerferien geht und die die ihnen anvertrauten Kinder mit stümperhaften Schulstunden um die Zukunft betrügen – fatal wäre es, wenn sich dieser Schmalspurpädagogen-Typus ausgerechnet dort konzentriert, wo die Kinder am meisten Unterstützung brauchen. Dem Schreckensklischee entsprechen viele Quereinsteigerinnen allerdings nicht – zumindest deutet eine Untersuchung aus Sachsen darauf hin, bei der Forscher der TU Dresden rund 500 Interessenten eines Quereinstiegsstudiums vor einigen Jahren befragten. 81 Prozent der potenziellen Quereinsteiger hatten bereits pädagogische Vorerfahrung, zum Beispiel in Jugendgruppen oder der Erwachsenenbildung. Sie nannten weniger eine sichere Stelle als Grund für ihren Berufswechselwunsch, sondern vor allem das Interesse am Fach und die Freude daran, es jungen Menschen nahezubringen. Die Unterschiede zu Lehramtsstudierenden, stellten die Forscher erstaunt fest, seien weniger groß als erwartet. Quereinsteiger haben oftmals zu Unrecht ein schlechtes Image.Trotzdem kann es zum Problem werden, wenn sich die Spätberufenen an Schulen ballen, die mit Problemen zu kämpfen haben. Im April wandte sich das Kollegium der Sonnen-Grundschule in Berlin-Neukölln in einem Brandbrief an SPD-Bildungssenatorin Sandra Scheeres: In einer der ärmsten Nachbarschaften zu unterrichten, sei ohnehin schon eine Herausforderung, schreiben die Lehrerinnen und Lehrer. „Und jetzt versetzen Sie sich bitte kurz in die Lage einer Quereinsteigerin oder eines Lehramtsanwärters, der das ‚normale‘ Unterrichtshandwerk erst lernen soll.“Im 20-köpfigen Team von Gregor Stiels in Köln-Buchheim unterrichten allein drei Quereinsteigerinnen: eine ehemalige Radio-Moderatorin und zwei Lehramtsstudentinnen. „Das sind sehr motivierte Menschen“, sagt Stiels. „Aber meine Kollegen haben viele Herausforderungen und sind oft zur Fortbildung. Da bleibt ihnen zu wenig Zeit, um sich um die Einsteiger zu kümmern.“ Ähnlich sieht es Dirk Zorn von der Bertelsmann-Stiftung: „Quereinsteiger sind nicht per se die schlechteren Lehrer. Aber wenn sie sich an einzelnen Schulen konzentrieren, wird die Betreuung zum Problem.“Das birgt eine gewisse Ironie, schließlich propagierte die Bertelsmann-Stiftung stets das Modell der selbstständigen Schule, die nach eigenem Ermessen ihr Personal auswählt – und bei der Rekrutierung eben den Kürzeren zieht, wenn die knappen Lehrkräfte sich lieber im Villenviertel einstellen lassen. Trotzdem will Zorn nicht zu einer Situation, in der die Lehrkräfte Schulen zugeteilt werden, an denen sie vielleicht gar nicht unterrichten wollen. Man müsse es vielmehr für die Bewerber attraktiver machen, in die Brennpunkte zu gehen.Etwa so, wie es Nordrhein-Westfalen in einigen Regionen versucht: Die Grundschulen in Gelsenkirchen, einer Stadt mit einer Erwerbslosenquote von über zehn Prozent, finden kaum Leute. Münster mit seiner hohen Akademikerquote ist bei den Bewerbern hingegen beliebt. Das Land wirbt nun mit einer Jobgarantie für die Uni-Stadt, wenn man sich vorher zu zwei Jahren Dienst an einer Grundschule im Ruhrgebiet verpflichtet. 21 Lehrkräfte konnten so 2017/18 an die Gelsenkirchener Grundschulen gelockt werden. Immerhin. Gereicht hat das aber nicht: Fünf Lehrer musste das Land ins Ruhrgebiet versetzen, um die Lücken zu füllen.
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