Auf breiter Front ist derzeit eine politische Klasse im Aufwind, die für die Plutokraten den Steigbügelhalter spielt, nachdem sie die Demokraten vom Ross gestoßen hat. Diese Klasse frönt einem Dezisionismus, der nur Freund und Feind kennt. Dazwischen gibt es keinen Spielraum für Zusammenarbeit, kein geteiltes historisches Erbe über Landesgrenzen hinweg. Als Donald Trump jüngst in Japan Station machte, klopfte er seinen Gastgebern auf die Schulter, weil sie bei ihm tüchtig Waffen eingekauft hätten. Sonstige Gemeinsamkeiten: Fehlanzeige. Das sah beim Treffen mit den Rule-Britannia-Revolverhelden anders aus, da hat man nämlich einen gemeinsamen Feind: die europäische Union.
Das alles hatte sich der US-amerikanische Historiker Francis Fukuyama nicht ausmalen können, als er kurz nach dem Mauerfall vollmundig das „Ende der Geschichte“ und den unaufhaltsamen Siegeszug des westlichen Demokratiemodells verkündete. Natürlich hat es sich schnell herumgesprochen, dass dies nur ein volksfrömmlerisches Wiederkäuen der marktliberalen Kathedertheologie war.
Wir vergessen unsere Zukunft
Dass wir dem dennoch nichts entgegenzusetzen haben, gehört, so der französische Anthropologe Marc Augé, zu den grundsätzlichen Paradoxen unserer Epoche: „Wir wagen es nicht mehr, uns die Zukunft vorzustellen, obgleich uns der Fortschritt der Wissenschaft Zugang zum unendlich Großen wie auch zum unendlich Kleinen ermöglicht.“ Die europäische Aufklärung hatte einst das Fenster weit aufgestoßen und Zukunft als etwas versprochen, was autonom gestaltet werden kann und soll. Heute sehen wir sie zunehmend als Eigendynamik der technologischen Prozesse, die ‚auf uns zukommen‘ (was denn auch die eigentliche semantische Wurzel des Begriffs ‚Zukunft‘ ist). Nicht demokratisch ausgehandelte Bedürfnisse, so Augé, sondern der technologische Innovationszwang bestimmten unser Verhältnis zur Zukunft.
Wenn nun der Glaube daran, dass Zukunft gestaltbar sei, abhanden kommt und unsere Lebensbezüge durch Innovationen ständig neu überformt werden, dann verlieren wir lebenswichtige affektive Beziehungen zu Räumen. Diesem Thema ist Augé bereits seit der 1992 erschienenen Studie Non-Lieux (Nicht-Orte) auf der Spur. Er untersucht dort den zunehmenden Verlust von historischen und lebensweltlichen Beziehungen in unserem Raumempfinden, das mittlerweile stark geprägt ist von Nicht-Orten wie Flughäfen, Malls und ähnlichen Bereichen des Durchgangs und Umschlags. Seine Grundeinsicht, dass funktionierendes soziales Leben konkrete Orte und Rituale der Öffentlichkeit benötige, ist umso virulenter in einer Zeit, die sich ganz dem Leitideal des Netzwerks verschrieben hat. In diesem Ideal werde „das Bild einer Welt verbreitet, das dazu tendiert, die wirklichen Existenzbedingungen zu verdecken.“ Hegemonien und Machtstrukturen seien in dieser Entortung der Welt nicht mehr als solche sichtbar. Die destruktive Macht der instrumentellen Vernunft und des individualistischen Konsumismus würden im Netz gleichermaßen ubiquitär wie unangreifbar. In seinem Manifest Die Zukunft der Erdbewohner stellt Augé dar, wie diese Entwicklung maßgeblich dazu beitrage, dass wir uns global auf eine „Drei-Klassen-Welt“ zubewegen, „geteilt in die Mächtigen, die Konsumenten und die Ausgeschlossenen.“ Die Trumps einer solchen Welt leugnen den Klimawandel nicht, weil sie ihn nicht für eine Realität halten, sondern weil sie mit ihrer Leugnung sicherstellen wollen, dass Konsumenten weiter konsumieren und Ausgeschlossene weiter ausgeschlossen bleiben.
Augé versucht, durch die Analyse dieser Situation hindurch zu einer „engagierten Anthropologie“ vorzustoßen. Damit meint er eine Neuausrichtung des menschlichen Nachdenkens über sich selbst, die aus den Denkfallen des humanistischen Individualismus befreit, ohne das Kind mit dem Bade auszuschütten und die Errungenschaften der Aufklärung aufzukündigen. Ausgangspunkt dieser „engagierten Anthropologie“ ist „das Bekenntnis, dass in jedem Einzelnen eine Vorstellung des Menschen als Gattungswesen existiert.“ In einem Zeitalter, das zunehmend geprägt ist durch die Auswirkung der „Menschheitsgeschichte“ auf die Biosphäre wird sich der einzelne Mensch auch zunehmend einer gemeinsamen Verantwortung für die Lebensgrundlagen bewusst. In der Vorstellung eines erkalteten Planeten ohne Biosphäre würden die Menschen zu einer „Weltgesellschaft“ zusammengeschweißt werden. Für Augé ist diese Gattungsdimension allerdings nicht nur eine negative Identität, vielmehr sieht er darin auch eine Gegenbewegung zur Erosion der „symbolischen Grundlagen der Beziehung zwischen den Menschen, nämlich Raum und Zeit.“ Im Wiederentdecken der eigenen Gattungsnatur wird das Individuum erst wieder lebendig, weil es sich in Zeiten des ökologischen und sozialen Prekariats als verantwortlich empfindet – für konkrete lebensweltliche Räume und Zeiten. Augé geht sogar so weit, das Bewusstsein des „Gattungsmenschen“ in uns als Ausdruck seiner eigentlichen „Souveränität im politischen Sinne“ zu sehen. Das Individuum findet also in dieser Fähigkeit zur kollektiven Sorge um das Überleben der Spezies erst zu seiner eigentlichen Bestimmung.
Das ist alles sehr grandios gedacht. Die Aufklärung wird mit Großbuchstaben geschrieben und Hegel wird, ohne dass sein Name fällt, fit fürs Anthropozän gemacht. Man wird den Eindruck nicht los, der 85-jährige Augé müsse sein Wissen noch unter Beweis stellen. Zu bildungsbürgerlich beflissen kommen doch etliche der philosophischen und wissenschaftsgeschichtlichen Exkurse daher, zu viele Stichwortgeber führt er ins Feld, die dem Manifestcharakter der Gedanken immer wieder im Weg stehen. Dennoch wünscht man seinem Plädoyer dafür, dass wir die Erde nur gemeinsam und nicht gegeneinander bewohnen können, viele Leser.
Info
Die Zukunft der Erdbewohner. Ein Manifest Marc Augé Aus dem Französischen von Daniel Fastner, Matthes & Seitz 2019, 94 S., 15 €
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