Betteln politisch gewollt?

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Es passiert häufig, wenn ich über den Berliner Alexanderplatz laufe. Ich werde von ihnen angesprochen oder es wird mir ein Blatt Papier hingehalten, auf dem um eine kleine Spende gebeten wird. Es sind Sinti und Roma, und zwar immer Frauen und Kinder, die Passanten anbetteln.

Nun ist die Situation dieser Volksgruppe nicht nur in Deutschland schlichtweg jämmerlich. Und, sorry, ich habe manchmal den Eindruck, dass hier das Leid, welches ihnen von den Nazis angetan wurde, von ihnen auch instrumentalisiert wird. Doch warum leben Sinti und Roma in Europa immer noch unter menschenunwürdigen Bedingungen?

2009 entstand ein neuer Staat in Europa, der Kosovo. Die Bundesrepublik war eine der ersten, die ihn völkerrechtlich anerkannte. Und sie schloss mit ihm ein sogenanntes "Rückführungsabkommen", was heisst, das Flüchtlinge aus der Zeit des jugoslawischen Bürgerkieges in den Kosovo "zurückgeführt" werden. In der Realität bedeutet das, dass Kinder, die in Deutschland geboren wurden, die deutsch sprechen, teilweise in Nacht- und Nebelaktionen mit ihren Eltern und anderen Verwandten aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und per Flugzeug in den Kosovo verbracht werden. Sie sprechen kein albanisch, sie kennen ihre neue Umgebung nicht, sie haben keine Wohnung, sondern kommen bei Freunden unter. Mehr als 9000 Sinti und Roma mussten so seit 2009 Deutschland gegen ihren Willen verlassen. Mehr als die Hälfte der unter 17-jährigen "Rückgeführten" ist depressiv, etwa 25% von ihnen hatte schon Suizidgedanken. Der Kosovo hat solche Abkommen auch mit anderen EU-Staaten abgeschlossen, so dass mehr als 25.000 Kosovaren in einen Staat verbracht wurden, den sie nicht als ihre Heimat empfinden können.

Nun ist Betteln in der Mitte Berlins auch nicht menschenwürdig. Nur warum weist die Bundesregierung Menschen, die hier seit Jahren leben, die teilweise unbefristete Arbeitsverhältnisse hatten, die sich integriert hatten in unsere Gesellschaft, so brutal aus? Zwar haben einige Bundesländer zeitlich begrenzte Abschiebestopps beschlossen, nur eine bundeseinheitliche Regelung existiert bis heute nicht. Und das ist auch ein Grund, warum Passanten nicht nur auf dem Berliner Alex angebettelt werden. Menschenwürdig ist anders, und gerade Deutschland sollte Sinti und Roma nicht in einen Staat verfrachten, in dem sie keine Zukunft haben. Menschenrechtsorganisationen haben seit 2009 wiederholt konstatiert, dass der Kosovo die vielen "Rückkehrer" aufgrund seiner geringen Wirtschaftskraft und seiner noch im Aufbau befindlichen Infrastruktur gar nicht alle aufnehmen kann, ohne sie in Arbeitslosigkeit und ohne angemessene Unterkunft zu lassen.

Eine Alternative wären unbefristete Aufenthaltsgenehmigungen, die den gegenwärtigen Zustand der Duldung ablösen und rechtlich dauerhaft bindend sind. Kämen dazu Arbeitsstellen und Bildungsangebote, würden sich noch mehr Sinti und Roma in unserer Gesellschaft integrieren. Doch das scheint politisch nicht gewollt zu sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

rolf netzmann

life is illusion, adventure, challenge...but not a dream

rolf netzmann

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