Danke, Großvater

erlebte Geschichte wie durch persönliche Gespräche Geschichte erlebbar wird

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ich denke gern an meinen Großvater zurück. "In fünf verschiedenen Deutschlands habe ich gelebt", pflegte er oft zu sagen. Geboren im Kaiserreich, wuchs er in der Weimarer Republik auf, studierte dort und begann sein Berufsleben. Er überlebte die Nazidiktatur und richtete sich in der DDR als ein Wissenschaftler mit ausgeprägtem Praxisbezug ein. Nach einem arbeitsreichen Leben ging er in diesem "anderen Deutschland" in den Ruhestand, den er nach 1990 in der Bundesrepublik in vollen Zügen genoß. Geistig bis ins hohe Alter rege, konnte er Stunden in dem kleinen Labor und seiner Werkstatt verbringen, die er sich in seiner geräumigen Altbauwohnung eingerichtet hatte, um zu experimentieren.
Viele Gespräche haben wir geführt, als Heranwachsender hing ich oft wie gebannt an seinen Lippen, wenn er Episoden aus seinem Leben erzählte. Es war gelebte Geschichte aus Zeiten, die mir für immer verschlossen bleiben werden.
Nein, es waren keine politischen Wertungen, Politik hat meinen Großvater nie interessiert. Er war ein Meister darin, sich in unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen seine eigene Unabhängigkeit zu bewahren, sich anzupassen, ohne sich dabei zu verbiegen oder selber untreu zu werden.
Es waren die Erlebnisse, ein alter Mann als Zeitzeuge längst vergangener Epochen deutscher Geschichte, es war seine lebhafte, lebendige Darstellung, die mich bis zuletzt faszinierte. Ohne zu werten, führte er mich zurück in dunkle Zeiten, seine persönliche Erlebnisse verwebten sich so mit meinen geschichtlichen Kenntnissen. Es entstand vor meinem geistigen Auge ein ganz anderes Bild als nur aus Büchern, ein mit Leben gefüttertes Bild, das sich an konkreten Personen orientierte.

Daran musste ich in den letzten Tagen immer wieder denken. Mein Großvater war ein begnadeter Erzähler, er malte mit Worten Bilder, die ich bis heute in meiner Erinnerung trage.
Wenn wir heute von der jüngeren deutschen Geschichte berichten, sind es die unterschiedlichen persönlichen Erlebnisse, die diese Geschichte erlebbar gestalten. Historische Fakten belegen trocken und nüchtern dan Ablauf geschichtlicher Ereignisse. Die Personen, die in dieser Zeit lebten, sie mitgestalteten oder auch nur über sich ergehen ließen, füllen diese Zeit aus, sie machen für die nachfolgende Generation Geschichte erlebbar.
Aus den sehr unterschiedlichen, persönlich gefärbten Darstellungen erwächst so eine differenzierte, vielfältige und dadurch realistische Darstellung der Vergangenheit. Geschichte verläuft nie linear, sie bedeutet Brüche und Wiederaufnahme. Und Zeitzeugen berichten immer subjektiv gefärbt, auch mein Großvater erlebte seine fünf Deutschlands in seiner eigenen, persönlichen Wahrnehmung.
Diese Vielfalt, diese Ausdifferenzierung aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln ist ein Schatz, den wir bewahren sollten. Verhindert er doch einen nur einseitigen Blick auf Geschichte.

Wer diese unterschiedlichen Darstellungen aufnimmt, sie nur auf sich wirken lässt, vorurteilsfrei und mit Toleranz, erlebt eine Bereicherung seiner eigenen Persönlichkeit.
Und dafür bin ich meinen Großeltern bis heute dankbar. Sie haben alle ihre Geschichte vor mir ausgebreitet, sind mit mir erzählerisch Wege gegangen und haben meinen Horizont so spielerisch erweitert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

rolf netzmann

life is illusion, adventure, challenge...but not a dream

rolf netzmann