Wo der Gast König ist

Revolution Der Film „À la carte!“ inszeniert das Ende des Ancien Régimes als Geburtsstunde der Restaurantkultur
Ausgabe 47/2021

Pierre Manceron ist ein genialer Koch und die Zierde des Hofes von Herzog Chamfort. Bei einem Festessen erweitert er eigenmächtig die abgesprochene Menüfolge und serviert ein Amuse-Gueule, das zwar allen mundet, doch einer der Gäste schmeckt in Mancerons unkonventionellen Pastetchen auch eine Provokation. Mit seinem Spott für die bäuerliche Füllung mit Kartoffeln („Sind wir etwa Deutsche?“) und reichlich Trüffeln („Ein Fressen für Schweine!“) demütigt der Edelmann den stolzen Koch aufs Giftigste.

Nun behandelt der vierschrötige Manceron zwar alles, was essbar ist, mit achtsamer Künstlerhand, aber für Etikette, will heißen, Unterwerfungsrituale, hat er kein Gefühl. Er entschuldigt sich also nicht und wird von seinem Gönner Chamfort umgehend geschasst. Mit seinem Sohn kehrt er in seine Heimat und in eine heruntergekommene Poststation zurück, wo Pferde und Reisende mehr schlecht als recht abgefüttert werden. In der provinziellen Abgeschiedenheit kann Pierre mit seinen Kochkünsten vermeintlich nichts anfangen. Doch dann taucht die geheimnisvolle Louise auf, die unbedingt bei ihm in die Lehre gehen und besonders die Herstellung von seinen Pastetchen, von ihm „Délicieuses“ getauft, lernen will. Ihre Spezialität ist das Kochen von „pâte de fruit“, Fruchtgelee. Doch ihre Hände strafen ihre Behauptung, von niederer Herkunft zu sein, Lügen. Und Chamfort macht Anstalten, seinen Starkoch, dessen Renommee auch das Ansehen des Adeligen steigert, gnädig wieder aufzunehmen.

Arbeitslose Köche des Adels

Wir befinden uns im Jahre 1788 und in den letzten Monaten des Ancien Régime. Noch verlangt der Adel totale Servilität, gilt individuelles Streben des Pöbels als Angriff auf die gottgewollte Ordnung. Doch der Countdown zur Erstürmung der Bastille läuft. Das in diesem Zeitfenster angesiedelte Drama illustriert den Epochenbruch aus der ungewohnten gastronomischen Perspektive und vor dem Hintergrund eines kulturgeschichtlichen Phänomens, über das man sich noch nie Gedanken gemacht hat: die Entstehung der Restaurantkultur durch die arbeitslos gewordenen Köche der Aristokratie. Der märchenhaft gedrechselte Plot ist gerade glaubwürdig genug, um daneben die vielen anderen Botschaften unterzubringen, die bei einem so weltbewegenden Ereignis wie der Französischen Revolution nun mal anfallen.

Da alles von diesem Ende her gedacht ist, fallen Dialoge gelegentlich so zeigefingerhaft wie, pardon, in einem deutschen Film aus. Pierres Sohn zitiert Rousseau und schwärmt von Montgolfier. Und er schimpft, ein Vegetarier vor seiner Zeit, über Fleischesser. Das ist wohl gedacht als Anknüpfungspunkt zur Gegenwart mit ihrer Mode veganer Askese, verweist indes unfreiwillig zurück in die filmische Vergangenheit, zu Marie Antoinettes „Zurück zur Natur“ als ultimativem Luxus derer, die alles haben können.

Was man isst, dient eben, sei es im Ancien Régime oder heute, auch als Marker des gesellschaftlichen Status. Mancerons Vorliebe für eine einfache, auf lokale Produkte setzende Küche jedenfalls verweist auf Bocuse’ „cuisine du marché“, seine Verachtung von „mittelalterlichen“ Geschmacksverstärkern wie Zimt, Safran und Ingwer lässt aufhorchen. Nimm das, Ottolenghi!

Exquisite Boshaftigkeit

Éric Besnards Inszenierung ist zwar etwas schwergängiger als in seiner Wohlfühlkomödie Birnenkuchen mit Lavendel, in der er mit leichter Hand Landidylle und -krise verquickte. Doch trotz didaktischer Momente macht es Spaß mitzuverfolgen, wie Louise und Pierre ausgehend von der höfischen Kultur das Konzept einer bürgerlichen Gaststube entwickeln: als einen Ort, wo der Gast König ist, wo sich Leute ungeachtet ihres Standes treffen und ihre Speisen von einer Karte wählen können. Wo man es sich, mit weißen Tischdecken, Blumen und freundlicher Bedienung, gut gehen lassen darf. Der Augenschmaus von sinnlichen Degustationen, schummrig beleuchteten und pittoresk arrangierten Stillleben von Kaninchen und Kohlköpfen ist das eine. Darüber hinaus werden in bukolischen Szenen mit Tischen im Grünen und fröhlichen Essern Restaurants und das Recht auf Genuss nicht nur als kulturelle Errungenschaften gefeiert, sondern bekommen demokratische Weihen verliehen.

Freude macht auch die Besetzung mit Isabelle Carré als mysteriöser Louise, Grégory Gadebois als sturem Koch und Benjamin Lavernhe als schneidend arrogantem Adeligen. Die Art und Weise, mit der sich die zwei an ihm rächen, ist von exquisiter Boshaftigkeit und besiegelt, mit Gabeln statt mit Mistgabeln, die Überwindung der alten Gesellschaftsordnung. Das Rezept für die leitmotivischen Pastetchen hätte man außerdem gern gehabt.

À la carte! – Freiheit geht durch den Magen Éric Besnard Frankreich 2021, 112 Minuten

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