TEMPOKAL? – Zu Risiken und Nebenwirkungen temporärer Raumnutzung

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Zur ›allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Kauen‹ lud das MS DOCKVILLE KUNSTCAMP am Freitag Abend in die von Zwischennutzung und Umdefinierung gekennzeichneten Räume auf dem Festivalgelände am Wilhelmsburger Hafen. Und bewies mit einem 3-Gänge-Menü zwischen künstlerischer Theorie und Praxis gekonnt, dass ein Symposium durchaus mehr sein kann als das bloße Wiederkäuen universitärer Kunstmeinungen. So gelang es denn auch erstaunlich unkompliziert, Inhalt und Form des Symposiums zu verbinden – und den Titel (»Tempokal? Zu Risiken und Nebenwirkungen temporärer Raumnutzungen«) real erfahrbar werden zu lassen.

Circa 20 Tischgäste, unterstützt von mehreren Interessierten drum herum, ließen sich, ganz der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Symposium folgend, bei Wein und gutem Essen auf die Paradoxien der gerade stattfindenden Situation ein. Paradoxien, die zum Beispiel daraus entstanden, dass einerseits über temporäre Phänomene im künstlerischen und gesellschaftlichen Raum gesprochen wurde, während gleichzeitig alle Teilnehmer per Video- und Audiomitschnitt für eine durchaus längere Dauer als nur einen Abend ihrer Flüchtigkeit entzogen wurden.
Und so befand man sich schnell inmitten der Diskussion um Grenzen und Möglichkeiten temporärer Erscheinungen – wie das Festival selbst eine ist. Auch hier spann die Veranstaltung bewusst den Bogen von der allgemeinen Betrachtung der immer größer werdenden Festivallandschaft in Deutschland hin zum Beleuchten der eigenen Situation: und deutete somit auf die Frage hin, wie nachhaltig als kurzzeitige Ereignisse angelegte Kunsterfahrungen überhaupt sein können.

Insbesondere der einleitende Vortrag Gesa Ziemers von der HafenCity Universität Hamburg sprach sich hier für ein Aushalten der stets als paradox erfahrenen Festivalstruktur aus und für ein Produktivmachen der Spannungsverhältnisse von Globalität und Lokalität, Schnelligkeit und Langsamkeit und Stadt und Land.

Im Umkreisen (und im besten Fall Einkreisen) dieser angeschnittenen Themenfelder folgte auf der Speisekarte nach jedem Redebeitrag der rege Austausch aller am Tisch Versammelten, wobei Messer und Gabel von Stiften unterstützt wurden, die es erlaubten die Tischdecke mit Notizen und fixen Ideen zu beschriften. Dass dies durchaus sinnvoll war (und zu mancherlei kreativer Zeichnung führte), zeigte sich anhand der Beispiele des Referenten Winfried Stürzl, der von seinem bis vor Kurzem mitkuratierten Stuttgarter Tresor – Raum für flüchtige Kunst berichtete. Denn nicht nur Kunstwerke, die sich mit dem Flüchtigen auseinandersetzen, sind »vergänglich, immateriell und prozessual«, sondern auch die zahlreichen Gedanken, die in den Unterhaltungen aufkamen. Dabei fiel in erster Linie auf, dass sich die Frage nach Vergänglichkeit nicht bloß im digitalen Raum stellt, sondern am Übergang vom Auratischen der Kunst hin zum Prozessualen sehr wohl auch Teil der bildenden Kunst ist. Gleichzeitig entstand aus Stürzls Beitrag die Diskussion, wie sehr eine Ausstellung oder ein Kunstwerk von der Exklusivität des Temporären auch profitieren kann, frei nach dem Motto: Temporarität als Chance! Und: gibt es überhaupt temporäre Kunst oder nicht vielmehr nur temporäre Künstler und Rezipienten?

Ohne eindeutige Antworten formulieren zu wollen, regte die Debatte, ob in kleiner oder großer Runde, schnell dazu an, scheinbar bekannte Begriffe neu zu hinterfragen und sich ganz persönlich zu verschiedenen Alltags- oder Kunstphänomenen zu verhalten: und sei es die simple Frage darnach, warum wir es unter Umständen nicht schaffen, ohne Back-up alle alten Einträge auf dem eigenen facebook-Account zu löschen.

Wie sehr die temporäre Gemeinschaft von Darstellern und Gästen bei den Aufführungen der Performer SIGNA der Gemeinschaft der Essenden am Tisch ähneln kann, ließ der Vortrag der Leipziger Theaterwissenschaftlerin Jeanne Bindernagel deutlich werden. Der Wunsch des Menschen nach einer Gemeinschaft, und sei diese auch so vergänglich wie im Theater, ist eine menschliche Konstante; das zeigte der Abend an genau jenem Punkt, da Wein und Diskussion eine geradezu private Atmosphäre herstellten, die die Grenze von wissenschaftlichen Vortrag und abendlichem Zusammensitzen fließend werden ließ und mithin eine Ahnung von den liminalen Zuständen der Zuschauergemeinschaften in SIGNAS Performances gab.
Dennoch birgt jede Chance der Temporarität stets auch das gegenteilige Moment: die Sehnsucht nach Gemeinschaft jenseits von vergänglichen Strukturen. Dass diese Sehnsucht zumindest im Fall der Performances von SIGNA zumeist unerfüllt bleiben muss, kontrastierten die Ausführungen Bindernagels im Abgleich mit der Symposiumssituation in jedem Fall sehr deutlich; denn wo bei SIGNA die Partizipation der Gäste ab einem gewissen Punkt imaginär bleibt, findet sie am Tisch – wie Gesa Ziemer es für alle temporären Ereignisse verallgemeinerte – auf verdichtete und konzentrierte Weise statt.






Partizipatorische Elemente ließen sich auch bei den beiden Repräsentanten des Kollektivs osa (office for subversive architecture) ausmachen. Karsten Huneck und Bernd Trümpler gaben Einblicke in ihre – durchaus subversiven – Arbeiten in England und Deutschland und erweiterten dadurch die Thematik des Abends auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Schnittstellen von Kunst, Partizipation und temporärer Raumnutzung. Die Beispiele ihrer Arbeiten reichten vom wieder zurechtgemachten ehemaligen Bahnhäuschen im Süden Londons, das den Fassaden der Häuser in den reichen Stadtbezirken nachempfunden wurde, bis zur Aktion vor dem Schauspiel Köln, wo sie einen großen Platz mit Wasser fluteten und dafür sorgten, dass mehrere Leute, die täglich diesen Platz routinemäßig überquerten, plötzlich mehrere Meter ins Wasser liefen, bevor sie dessen gewahr wurden. Ganz im Sinne von: manchmal muss man eben erst am eigenen Leib erfahren, was es heißt, wenn Räume sich – und sei es auch nur für kurze Zeit – verändern.


Eine lohnende und wirkungsvolle Unterbrechung des so oft vorherbestimmten Verlaufs eines Symposiums hat dieser etwas andere Abend in jedem Fall erzielt – sowohl bei den Vortragenden als auch bei den Gästen. Ausgehend davon, dass alle durch die charmante Art und Weise des geselligen Beisammenseins von ganz alleine dazu angehalten wurden, sich am Gedankenaustausch zu beteiligen und die Debatten voranzutreiben, konnte man nach fast vier Stunden am und um den Tisch festhalten, dass die einerseits klare Strukturierung des Abends mit Zeremonienmeisterin (Aline Benecke) und dem Wechsel der verschiedenen Speisen zwischen den Redebeiträgen auf der anderen Seite zur Auflockerung der Symposiumssituation führte – und somit zu einem geistig nachhaltigen und nahrhaften Abend für alle Beteiligten.

Text: Udo Eidinger

Das MS DOCKVILLE FESTIVAL und der Freitag sind Medienpartner.

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MS ARTVILLE 2015. Am Bau unserer Kunststadt sind KünstlerInnen und Kollektive aus der ganzen Welt beteiligt.

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