Die Last auf den Schultern der Delegierten

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Noch ist Jürgen Stange ganz ruhig, später aber, wenn es auf den Abend zugeht, wird die Nervosität steigen. Dann hat er seinen Auftritt als einer der zehn Kandidaten für den Vorsitz der Partei Die Linke. Weil er selbst kein Delegierter ist, hat sich der Koblenzer als Kandidat aufstellen lassen. Dann will der ehemalige Karnevalsprinz in seinen sieben Minuten Redezeit mit "einer sehr provokanten Rede" abrechnen mit der alten Führung; aber auch Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht will der Mann mit dem Zwirbelbart "einen mitgeben". Denn die würden trotz all ihrer Verdienste eine Partei mit einer autoritären Führungsstruktur fördern, statt eine, die auf Basisdemokratie gründet. "Wer von vornherein ausschließt, mit wem er die Partei führen will, ist nicht wählbar", sagt Stange. "Ich will den Finger in die Wunde legen."

Auf dem Göttinger Parteitag herrscht eine besonder Atmosphäre - weil er völlig offen ist. Die Szenerie für den Parteitag einer Arbeiterpartei im Existenzkampf hätte kaum besser gewählt werden können. Die Göttinger Lokhalle durchzieht ein kaltes Lüftchen, Eisenstreben ziehen sich entlang der Decke. In den Parteitagssaal gelangt man über einen verdunkelten Gang, an dessen Ende die Vorhänge eine Lücke freigeben, durch die die rote Bühne mit dem Linke-Schriftzug heraussticht.

Hier soll über die Zukunft der Linken entschieden werden. Fraktionschef Gregor Gysi warnte kurz vor dem Parteitag vor der Spaltung der Partei. Erstmals treten mehr als zwei Kandidaten für die Doppelspitze an – gleich zehn sind es diesmal. Bei solch Unübersichtlichkeit erschwert sich die Wahlwerbung der Kandidaten noch. Verteilt auf dem Gelände bilden sich Grüppchen aus den Landesverbänden. Die Delegierten werden noch einmal in Feinabstimmung auf die Wahlen vorbereitet. Inmitten einer steht Mecklenburg-Vorpommerns Landes-Chef Steffen Bockhahn und stimmt mit ernster Miene seine Landesgruppe auf Dietmar Bartsch ein, der stumm neben Bockhahn steht. "Selbst durch unseren Landesverband geht ein Riss", sagt einer der Delegierten. Alles sei noch völlig offen.

Erstmals wird die Parteispitze nach "dem freien Spiel der Kräfte" bestimmt, wie es die Süddeutsche nannte. Kampfabstimmung, Duell, Show-Down – alles martialische Umschreibungen für eine demokratische Abstimmung. Demokratie sei, erinnert Oskar Lafontaine in seiner Rede, wenn sich die Interessen der Mehrheit durchsetzen. Dass das nun passiert, liegt auch daran, dass die alte Parteiführung es nicht geschafft hat, einen Konsens zu erreichen.

Die Debatte ist hitzig, die beiden Flügel streiten sich um Leitantrag und Personentableau, um den Umgang mit der SPD und der Frage von Regierung und Opponieren, der Frage von Reform und Systemfrage. In der Sache sind sich die Redner meist weitgehend einig, es geht um die Agenda 2010, um Leiharbeit, um Afghanistan oder den Fiskalpakt. Auch beschwören alle, dass nur eine einheitliche Linke stark sein könne. Trotzdem ist die Spannung in der Partei zu spüren, die beiden Lager sticheln gegeneinander, eine dritte Gruppe beklagt die "Selbstzerfleischung" und die gegenseitigen "Denunziationen". Gregor Gysi spricht gar von "Hass", der in der Bundestagsfraktion bei manchen herrsche.

Die Last, das mit der passenden Führungsspitze zu überbrücken, wurde in die Hände der Delegierten übergeben. "Ihr habt eine schwere Aufgabe", sagt Gysi in einer für seine Verhältnisse besonders ernsten Rede. Die Unterschiede der "Interessenpartei im Westen" und der "Volkspartei im Osten" legt er offen, will diese aber akzeptiert wissen. Gysi vermeidet es, sich auf eine Seite zu schlagen: "Ihr müsst den Weg finden, eine kooperierende Führung zu wählen", ruft er den Delegierten zu. Die Klugheit der Masse wird sich wohl erst in den nächsten Wochen zeigen.

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