Das Leben in den Zeiten der Corona; AC 3.46

Das Logbuch geht weiter: Nach vorne schauen – what the f**k are „Vergangenheit“ und „Gegenwart“?

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Am Mittwoch fliegt Deutschland aus dem Titelrennen der Handball-WM. Zu den Top-Teams gehören wir also auch in dieser Sportart derzeit nicht. Ich schaue das Spiel mit einigen Mitgliedern meiner kleinen Fußball-Gemeinde in unserer Stammkneipe – die meisten von ihnen sind von Haus aus Handballer, wir treffen uns mittwochs regelmäßig zum Kicken auf der „Platte“. Ebenfalls anwesend sind einige weitere Bekannte. In der Halbzeitpause wird die anwesende Herrenrunde von der sich anbahnenden sportlichen Schmach abgelenkt, als die schon seit Wochen vorhersehbare Nachricht des Tages verkündet wird: Deutsche Panzer rollen (wieder) in die Ukraine. Das sagen der Scholli und nachgeordnet der Neue aus Niedersachsen. Die links hinter dem Kanzler-Imitat Position beziehende und einmal mehr wie eine Konfirmandin dastehende Adjutantin sagt nichts. Schnell ziehe ich den Unmut einiger Anwesenden auf mich, indem ich die nun beschlossene und verkündete Hardware-Lieferung ablehne. Eine dezidierte Argumentationskette, wie ich sie normalerweise in Gesprächen abspule, möchte ich dieser bierseligen Runde nicht zum Fraß vorwerfen – so verabrede ich mich mit einem der Bekannten lose zu einem Essen, bei dem ich dann gerne ins Detail gehen werde. Ein anderer der anwesenden Panzer-Befürworter sieht meine Einstellung als “gestört” an und lässt verlauten, dass ich eine solche Meinung (in einer Demokratie) zwar haben dürfe, aber nur draußen vor der Tür. Er selbst verharrt in seinem intellektuellen Sandkasten mit der vorpubertären Einstellung “Putin hat doch angefangen”. Leider muss unsere Demokratie auch diese revanchistischen Kindsköpfe aushalten, die den bösen Jungen bestraft sehen wollen – egal, um welchen Preis. Ob diese Strafe, bestehend aus 14 Panzern, vom russischen Despoten als solche verstanden wird, darf stark bezweifelt werden. Dass er das gute Dutzend Tanks als Provokation ansieht, steht bereits vor dem peinlichen Medientheater des ZDF fest. Wozu muss diese jämmerliche Waffenlieferung zu allem Überfluss auch noch medial aufgeblasen werden wie ein direkter Kriegseintritt mit Mann und Maus?

Mein bescheidener “Sieg” an diesem Abend besteht letzten Endes darin, dass der betreffende Kollege selbst es ist, der sich weit weg von mir an die Tür setzt und die Runde direkt nach Abpfiff des Handballspiels verlässt, ohne sich von mir zu verabschieden. Die verbliebenen Jungs ertragen die am Ende sehr deutlich ausfallende Niederlage der zu unerfahrenen deutschen Mannschaft gegen die ausgebufften Franzosen im Schulterschluss. Über Panzerbewegungen gen Osten mag heute Abend keiner mehr reden.

Sehr viel subtiler äußert sich ein Pfarrer am darauf folgenden Freitag. Auch wenn seine Aufgabe eigentlich das Halten einer reinen Trauerrede ist, lässt er es sich nicht nehmen, einige Nebenbemerkungen zum Ukraine-Krieg einzuflechten. Richtig unerquicklich an seinen Worten ist, dass er die Kriegsmeldungen von außereuropäischen Schauplätzen als “natürlich” bezeichnet, wohingegen der “Krieg in Europa” für ihn etwas völlig Unfassbares darstellt. Leider ist der Pfarrer auf der anschließenden Trauerfeier nicht mehr zugegen – denn gerne hätte ich ihn gefragt, ob er in den 1990er-Jahren schon auf der Welt war, und warum andere Kontinente in seinen Augen “natürlich” kriegerische Orte seien, während Europa (wo auch immer die Grenzen dieses Kontinents gezogen werden) für ihn das ungebrochene Privileg habe, eine dauerhafte Insel der Friedfertigkeit zu sein.

Ohne einen Austausch mit dem Pfarrer tappe ich auf der Trauerfeier einmal mehr in eine andere Lieblingsfalle: Corona. Heute tue ich dies allerdings sehr bewusst, da ich niemanden der Anwesenden jemals zuvor gesehen habe und davon ausgehe, auch niemanden von ihnen je wiederzutreffen. Ohne an dieser Stelle auf alle Details der (stereotyp wie eh und je verlaufenden) Diskussion einzugehen, ist festzuhalten: Eine der vier (außer mir) involvierten Personen pflichtet mir beim Kritikpunkt “2-G-Regel” einen Halbsatz lang bei, um sich im zweiten Halbsatz ganz schnell wieder zu relativieren. Zwei andere Gesprächsteilnehmerinnen behandeln mich, nachdem eine von ihnen die Feststellung “dann konnten Ungeimpfte eben nicht mehr weggehen” getroffen hat, gerade so, als sei ich ein nicht ganz zurechnungsfähiges schwarzes Schaf in der Familie, mit dem man am besten gar nicht spricht. Die vierte Person behauptet stolz, eine Menge “Querdenker” zu kennen und zu wissen, dass das alles “Corona-Leugner” seien. Was an diesem Gespräch – ähnlich wie in der Kneipe zwei Tage zuvor – auffällig ist: Zwei Meinungen sind den Meisten schon zu viel für ein Gespräch. Erst recht, wenn es um das Virus oder den Krieg geht. Viele scheinen in derartigen Situationen schlichtweg überfordert zu sein und reagieren mit Abwehr oder Abschalten.

Das Wort zum Sonntag spricht diese Woche der Lieblingskollege meiner Lohnarbeitsstelle, von der ich durch fortwährendes „Bossing“ systematisch abgekoppelt wurde, um nun, nach Arbeitsunfähigkeit und juristischem Streit, zum letzten Mal dort hinzufahren und meinen Roll-Container zu räumen. Was in den vergangenen mehr als fünf Monaten meiner Abwesenheit dort passiert ist, wird in unserem Übergabegespräch nicht mit einer Silbe erwähnt. Statt dessen sinniert der Kollege, dass der Blick nach vorne gerichtet sein sollte. Einerseits hat er recht – andererseits reiht sich diese Geschichte nahtlos ein in eine bedenkliche Gesamtentwicklung unserer Gesellschaft: Große wie auch kleine Prozesse verselbstständigen sich und werden ohne kritische Auseinandersetzung hingenommen – wobei bedenkliche Tendenzen oft heruntergespielt und allzu banale Formeln gerne überbewertet und unterstützt werden. Differenzierung ist “out”. Werte und Wirken müssen auf Hashdag-Länge reduzierbar sein. Viele Menschen setzen auf Verdrängen, Verdrehen oder Vergessen. Vergangenheit ist entweder liebenswert anheimelnd oder abgrundtief böse. Gegenwart ist stets alternativlos und unvermeidbar. “Go with the flow”. Mögliche Fehler werden während ihres Entstehens nicht in Betracht gezogen, die daraus resultierenden Fehlentwicklungen später bevorzugt als unvermeidbar bezeichnet. Wie aus einer derartigen Haltung eine tragfähige Zukunft erwachsen soll, wird mir zunehmend rätselhafter.

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