Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 4.32

Das Logbuch geht weiter: Das unsichtbare Kriegsdrehbuch

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Das Weltgeschehen scheint einem unsichtbaren Drehbuch zu folgen. Zumindest das Achtel des Weltgeschehens, das wir über unsere Medien mitbekommen – wenn es überhaupt ein Achtel ist. Ein Drehbuch, in dem zwei Kriege gleichzeitig beginnen, funktioniert nicht. Neben einem Krieg kann es eine Unwetterkatastrophen geben oder einen Skandal in der nationalen Politik, aber niemals einen zweiten Krieg. Kann sich jemand vorstellen, dass ein Überraschungsangriff Putins auf die Ukraine zeitgleich mit noch überraschenderen Hamas-Raketen auf Israel stattfindet? Ich nicht.

Jetzt sind die Innenstädte wieder gefüllt mit Demonstrationen, für Israel und für Palästina, und nebenan stellen Iraner Bilder von Opfern der Mullahs auf, um Geld zu sammeln. Falscher Ort, falsche Zeit – jetzt, da sie doch wissen müssten, dass alle Augen auf den Gazastreifen gerichtet sind? Oder bewusstes Trittbrettfahren? Das „Marxistisch-Leninistische Police Department“ nutzt den Anlass, um in guter alter Tradition den Kapitalismus anzuprangern und jemand singt Lieder. Im Fernsehen ist zu sehen, wie Wasserwerfer der deutschen Polizei palästinensische Flaggen wegspülen, während die israelische Flagge auf das Parlament des bislang neutralen Österreichs projiziert wird. Kaitlin H. von Avaaz klärt darüber auf, dass die Hälfte der Einwohner des Gaza-Streifens Kinder sind und sammelt ebenfalls Geld. Israel hat der Ukraine den Rang abgelaufen – und das schon lange, bevor ich überhaupt wusste, dass es eine Ukraine gibt: Vor etwas über 50 Jahren, als Palästinenser in München israelische Olympioniken töteten. Und das war noch nicht einmal der Beginn des ganzen Schlamassels.

Ich muss gestehen, dass ich konfliktmüde geworden bin. Man versucht, sein eigenes Leben in der eigenen Gesellschaft, im Familie- und Freundeskreis konfliktärmer zu gestalten und dann kommt jemand, der einem einen anderen Konflikt aufdrängt. Einen, mit dem man nun so gar nichts zu tun haben will. Man wird angemailt oder angesprochen und soll sich für eine Seite entscheiden – auch, wenn einem beide Seiten annähernd gleich fern und fremd erscheinen. Für mich ist das eine Form der Nötigung, sowohl in meinem Postfach als auch in der Öffentlichkeit. Und auf Nötigung reagiere ich zunehmend empfindlicher. Wenn man sich im Kreise seiner Bekannten nicht zu einem Konflikt äußern will, gilt man schnell als jemand ohne Meinung und die Falle ist gestellt: Sobald man dann entgegenkommenderweise doch seinen Mund aufmacht, kann es leicht passieren, dass man dafür verurteilt wird – ein Phänomen, das auch in Talkshows deutlich zutage tritt. Eigentlich gucke ich ja seit Jahren keine mehr, doch in letzter Zeit schalte ich zumindest für ein paar Minuten in einige wieder hinein. Sollen doch andere für unpopuläre Statements auf die Schnauze kriegen, ich halte mich raus und bin froh, diesmal ungeschoren davonzukommen. Ist das feige?

In meinem Umfeld bin ich mitunter als streitbarer Geist bekannt – und diese Rolle habe ich früher in Diskussionen durchaus auch genießen können. Doch seitdem man für seine Meinung postwendend diffamiert, beleidigt oder ausgegrenzt werden kann, gehe ich rhetorischen Wettkämpfen immer öfter aus dem Weg. Es reicht schon, dass da draußen Krieg herrscht und dass der Krieg niemals versiegt – so sehr die „Entrüsteten“ ihr Unverständnis für die Gewalt der einen auch wie einen Heiligenschein vor sich hertragen mögen. Und dass sie im gleichen Atemzug die Aufrüstung der anderen fordern, auch das trägt dazu bei, dass der Krieg weiterlebt und mitunter auch bei uns noch immer glorifiziert wird. So kommt, was kommen muss: Je häufiger die auf der Weltbühne als offensichtliche Aggressoren auftretenden Parteien als „entmenschlicht“ bezeichnet werden, desto vehementer gehen viele Benutzer derartiger Termini auch mit ihrem Gesprächsgegenüber um. Folgerichtig ist man über die Meinung eines Islam-Experten genauso „erschüttert“ wie über die Raketenangriffe der Hamas selbst.

Nach allem, was auf unserem Kontinent in den letzten Jahrhunderten passiert ist, bin ich immer wieder erstaunt, wie einseitig sich vermeintlich aufgeklärte und vorgeblich empathische Mitteleuropäer in Krisenzeiten positionieren. Offensichtlich brauchen viele Menschen – wenn sie schon nicht direkt ins Kriegsgeschehen involviert sind, ihren eigenen Ersatzkrieg, bei dem sie so selbstgerecht und restriktiv auftreten können, wie sie wollen, ohne dass ihnen Leib und Seele in Gefahr geraten. Auf dem gemütlichen Sitzmöbel im Fernsehstudio lässt es sich natürlich viel bequemer kämpfen als im Feindesland. All den Sesselkriegern sei zugerufen: Nein, es ist erschreckenderweise genau das Gegenteil von „entmenschlicht“, Frauen und Kinder des Feindes „bestialisch“ zu töten – vielmehr scheint es zum Menschen zu gehören wie zu keiner anderen Spezies dieses Planeten. Ganz davon abgesehen, dass das Absprechen des Menschseins der erste Schritt dahin ist, Gegner auch nicht wie Menschen bewerten und behandeln zu müssen.

Nun könnte man darüber nachdenken, wie dieses „Kriegsgen“, das uns Menschen seit Anbeginn der Geschichtsschreibung innewohnt, erfolgreich aus dem Erbgut entfernt werden könnte. Doch derartige Experimente gab es schon und es gibt gute Gründe, nicht daran anzuknüpfen. So müssen wir wohl auch weiterhin damit leben, dass „Opfer“ zu „Tätern“ werden – bis wir alle Opfer sind, indem wir das Kriegführen an die KI delegiert haben.

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