Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 4.28

Das Logbuch geht weiter: Die Macht des Wortes

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Überall wird geredet. Würden wir eine Abgabe für Wortverschmutzung entrichten, könnte die CO2-Steuer getrost hintenangestellt werden – zumal man sich ja so ganz einig noch nicht darüber ist, welchen Anteil es am Klimawandel nun wirklich hat. Bei Worten ist das einfacher: Die meisten sind definitiv überflüssig, machen die Zuhörer jedoch gehörig kirre und lassen dann keine entsprechenden Taten folgen. Zumindest von denen nicht, die sich aufs Reden kaprizieren. So liegt die Vermutung nahe, dass viele Menschen reden, um selbst nichts tun zu müssen. Und wenn sich damit Geld verdienen lässt – umso besser.

Es fällt auf, dass der Anteil an Wortveranstaltungen gegenüber den Musikveranstaltungen stetig zunimmt – und oft handelt es sich um sogenannte „Formate“, bei denen die Leute auf der Bühne über mehr oder weniger witziges Stammtischgeschwafel nicht hinauskommen. Das Publikum lacht in jedem Fall, zumindest, wenn es dafür bezahlt hat. Je flacher und berechenbarer die Witzchen auf der Bühne, desto dankbarer ist man – schließlich will man sich ja ablenken. Aber wovon? Wahrscheinlich von den anderen überflüssigen Worten, die man sich zuhause, auf der Arbeitsstelle oder in den Medien anhören muss. Oder von den eigenen.

Oft gibt es Redeveranstaltungen von Leuten, die eigentlich etwas ganz anderes gelernt oder studiert und danach erkannt haben, dass sich mit Büchern und deren Live-Promotion in Talkshows, auf Lesebühnen und Podien ein erkleckliches Zubrot verdienen lässt. Hier hat das Publikum noch weniger Arbeit: statt die Lachmuskeln zu bemühen, braucht es nur ein wenig mit dem Kopf zu nicken und nach jedem Absatz ein bisschen zu klatschen. Eigentlich würde es reichen, die Bücher dieser Nicht-Schriftsteller, die mitunter durchaus sehr interessante Gedanken mitzuteilen haben, zu lesen. Doch lesen strengt an – und außerdem reicht es den meisten Leuten zu wissen, was andere über ein Buch erzählen oder zu welchem Urteil „Der Spiegel“ gekommen ist. Darüber hinaus – und das ist schon etwas putzig – wollen viele die Autoren auch sehen, obwohl es da im Grunde nichts anderes zu sehen gibt als auf den Klappenporträts ihrer Bücher. Und wenn die Autoren erstmal den Mund aufmachen, klingt das oft recht enttäuschend – verfügt doch kaum jemand von ihnen über eine wahrhaft präsentationswürdige oder gar ausgebildete Stimme. Warum also gehen so viele Menschen in Veranstaltungen, auf denen dem, was sie bereits kennen oder mit wesentlich geringerem Zeit- und Kostenaufwand kennenlernen könnten, eigentlich nichts hinzugefügt wird?

In Sprech- und Leseveranstaltungen bekommt man immer genau das, was man erwartet: Man sitzt da und fühlt sich in seiner Meinung bestärkt. Gerade so, als habe man im normalen Leben niemanden um sich herum, der seine Meinung teilt. In den letzten Jahren ist unsere Meinungsfreiheit leider auch dahingehend verkommen, dass viele mit ihrer Meinung alleine dazustehen glauben. Insofern haben Redeveranstaltung sicher auch eine nicht zu unterschätzende therapeutische Funktion. Doch ist das Rechtfertigung dafür, Redeveranstaltungen zum Standard zu machen und Musik zu schmückendem Beiwerk zu degradieren? Darüber hinaus muss Musik heute harmlos und leicht konsumierbar sein, insbesondere wenn die Worte so schwer wiegen, dass man sich davon zwischenzeitig erstmal erholen muss. Am besten ist die dargebotene Musik, wenn sie sich auf irgendeine andere Musik bezieht – zum Beispiel die, die man schon kennt und mag.

Das, was eigentlich für das Zuhören gemacht und nicht durch etwas anderes ersetzbar ist, kann sich zunehmend schwerer Gehör verschaffen: Musik, die sich auf einem gewissen Niveau bewegt. Gemeint sind damit also nicht die säuselnden Klangtapeten in Einkaufszonen und Restaurants, die Bum-Bum-Legos und Jallah-Lallas, die penetrant aus neben einem an der Ampel wartenden Auto plärren, nicht die in Ermangelung melodiösen Erfindungsreichtums brav aufgesagten Pop-Verse zu eindimensionalen Harmonien und auch nicht die breitwandig aufgeblasenen Befindlichkeitshymnen, die einem in der Werbung als tief und wahrhaftig verkauft werden. Sondern das Unbekannte, Unerwartete, das nur live, zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einem bestimmten Raum und in einer ganz bestimmten Konstellation von Menschen auf ganz spezielle Weise funktioniert. Also jedes Mal neu, überraschend anders, und immer mit dem Risiko des Scheiterns behaftet.

Kurz: Verbalitäten, die eigentlich in den gesellschaftlichen Diskurs gehören, beziehungsweise Placebos für ebenjenen Diskurs sind, werden auf die Bühnen gezerrt, wo sie einer angestammten Bühnendisziplin, der Musik, viel zu viel Platz wegnehmen. Eine derartige Abwertung und Verdrängung hat die Live-Musik mit den DJ-Invasionen früherer Dekaden bereits häufiger erleiden müssen – warten wir also ab, was nach der Invasion der Wörter an livehaftiger Musik noch übrig sein wird. Wenn die Wörter dereinst alle gesagt sein werden und die Leute wieder andächtig lauschen wollen.

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