Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 4.29

Das Logbuch geht weiter: Bürger, halt's Maul!

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Viele vertreten die Ansicht, wir hätten eine der besten Demokratien der Welt. Leider kann ich das nicht beurteilen, denn aus dem „Inside“ kenne ich nur diese eine. Doch sollte es wirklich eine der besten sein, dann sind Demokratien eine ziemliche Fehlentwicklung. Dabei kann das Modell „Demokratie“ selbst nicht viel dafür – es ist wie immer der Mensch, der das von ihm geschaffene System unzulänglich macht. Wie man es auch dreht und wendet: Demokratie ist kein Grundbedürfnis, sondern eher in der Nähe der „Zehn Gebote“ angesiedelt.

Grundbedürfnisse sind Hunger, Durst, ein wasserdichtes Dach über dem Kopf und ein warmer Ofen vor dem Bauch, ausreichend Schutz vor Bären und Wölfen, etwas Auslauf und eine Arbeit, die man bewältigen kann und die einen idealerweise glücklich macht, zuzüglich einiger intimer Genüsse. Auch die Religion hat einen künstlichen Überbau – doch haben wir sie jemals als unabdingbare Existenzgrundlage verinnerlicht? Die „Aufklärung“ war für die meisten Menschen schlichtweg eine Überforderung und die Demokratie ist … ich erwähnte es bereits: ein Modell.

In der Umsetzung stellt sich das hierzulande zunehmend so dar: Jeder, der die Macht hat, Spielregeln nach eigenem Gutdünken auszulegen, tut das. Wer will schon, wenn er nach langem Hauen und Stechen endlich ein „Bestimmer“ ist, bei jeder Entscheidung noch andere fragen müssen? Als „Wahlvieh“ spielen wir Blinde Kuh, indem wir eine der ominösen Parteien aus einem sehr überschaubaren Katalog wählen – vier Parteien machen annähernd das gleiche, eine weitere gilt als Relikt der gescheiterten DDR und die sechste als unwählbar – und dann erscheinen in den Parlamenten und Kabinetten Leute, die wir weder kennen, noch kennen wollen. „Die Piraten“ und andere geringprozentige Parteien mögen mir diese Vereinfachung verzeihen. Besagte erste vier Parteien also sind mit ihren Freunden jeweils unter sich, als „Gang“ sozusagen. Diese Gangs besetzen sämtliche Ministerien und Gremien und verbreiten den Glauben, ohne sie ginge gar nichts. Mit der jeweiligen Opposition kabbelt man sich ein wenig, tut sich aber nicht wirklich weh, weil man ja weiß, dass irgendwann genau diese Leute wieder am Ruder sind oder sein könnten. Außerdem könnte man sie noch als Koalitionspartner brauchen. Gute Beziehungen pflegen die Gangs überdies noch zu einem anderen ominösen Geflecht namens „Wirtschaft“, das niemals aus Menschen, sondern stets aus heilsbringenden, über allem anderen stehenden Interessen besteht. Vorgebliche Ausnahme von dieser Regel: Die Corona-Zeit – von der dann bekanntermaßen dennoch einige Wirtschaftszweige vortrefflich zu profitieren wussten.

Doch halt – wir haben ja noch einen „Rechtsstaat“. Man darf als gemeiner Bürger also sein Recht einklagen. Zumindest, wenn man sich einen Anwalt leisten kann. Dumm nur, wenn dann auch die betreffenden Gerichtsinstanzen mit Parteigängern besetzt sind und diese dann mannigfaltig formale Möglichkeiten haben, Klagen auf die „lange Bank“ zu vertrösten oder komplett abzuweisen. Wer nicht klagen kann oder will, darf eine „Petition“ starten. Hierbei müssen innerhalb von nur sechs Wochen auf Landesebene 5.000 und auf Bundesebene 50.000 Mitunterzeichner zusammenkommen. Petition heißt übrigens „Bittstellung“ – meint also, dass wir die von uns gewählten Volksvertreter um etwas bitten müssen, anstatt etwas fordern zu können. Diese Leute zu wählen bedeutet letzten Endes, Demokratie abzugeben anstatt sie wahrzunehmen. Der Autor und die Lektorin dieser Kolumne haben sich als lernwillige Staatsbürger einen solchen „Petitionsausschuss“ in Niedersachsen einmal angesehen …

Zunächst fällt auf, dass die gesamte Atmosphäre des Plenarsaals in der hannoverschen Altstadt nichts mit der normalen Welt „draußen“ zu tun hat: Besucher haben ihre Sachen im Foyer einzuschließen – Damen übrigens auch ihre Handtaschen – und werden per Ausweiskontrolle erfasst. Der Sitzungssaal ist durch eine große, schalldichte Scheibe vom Empfangsraum abgetrennt. Besonders auffallend an dieser Scheibe ist das ungewöhnlich massive Strebewerk, das unwillkürlich an den Käfig von King Kong erinnert. Der Rundbogen, den dieser gigantische Raumteiler in seiner Gesamtform bildet, simuliert einen alten Gewölbekeller. Wenn man das Allerheiligste betritt, umfängt einen sofort eine Aura von Sterilität und Sedierung: blasse, indirekte Kunstlichtatmosphäre, im Halbrund angeordnete Platzreihen – ähnlich verwaist wie die des Bundetages – mit auffallend klobigen Tischen, die in den vorderen Reihen mikrofonbestückt sind. Uns, als „Bittstellern“, werden unmikrofonierte Plätze in den hinteren Reihen zugewiesen. Licht, Optik, Klang und selbst der Mensch wirken in diesem unnatürlichen Raum gedimmt und gedämpft. Der gemeine Hinterbänkler, wenn er sich unerlaubterweise doch einmal äußern sollte, ist akustisch kaum zu verstehen, wie wir im Laufe der Sitzung noch feststellen werden. Auf dem Rednerpodest ragen die deutsche und die EU-Flagge empor, doch leider ist nirgends unser Wappentier, das springende Pferd, zu entdecken. Und dass mit der an diesem Tag erfolgten Ablehnung unserer Petition ebendiese EU-Flagge im wahrsten Sinne verhöhnt wird, darüber ist sich der bäuerlich wirkende Vorsitzende höchstwahrscheinlich noch nicht einmal im Klaren – doch dazu gleich mehr. Das Anliegen, für das wir hergekommen sind, hat auf den ersten Blick auch nicht viel mit Europa zu tun, sondern es geht um ein urbanes Landschaftsschutzgebiet, das zugunsten des Straßenausbaus aufs Gröbste verstümmelt werden soll. Wäre das Pferd hier, würde es ob dieser Schandtat wohl seinen Dienst quittieren, handelt es sich bei der von uns Bürgern angefochtenen Bauentscheidung doch um einen unzeitgemäßen, stadtklimafeindlichen und politisch überaus restriktiven Akt zu Gunsten der Auto-Lobby. Ich frage mich, warum nicht schon längst ein VW – übrigens hat Hannover noch immer berittene Polizisten, die ihre Pferde über den Asphalt quälen – das arme Tier im Landeswappen abgelöst hat.

Eine von uns eingereichte Petition wurde ein Jahr lang verschleppt, sodass die drohenden landschaftlichen Eingriffe nun direkt vor der Tür stehen – im Oktober beginnt die sogenannte „Rodungssaison“. Medizinische, klimatische, architektonische, bau- und naturrechtliche sowie verkehrsrelevante Studien und Gutachten seitens der engagierten Bürger, Vereine und Initiativen werden von den politischen Machthabern permanent ignoriert und weggelogen. Lieber handelt man sich Rügen und eventuell Geldstrafen von der EU ein, anstatt den europaweit verordneten Klimaschutz ernst zu nehmen. Niedersachsen gilt als einsam an der Spitze liegender Landschafts- und Klimasünder Deutschlands. Man muss kein Hellseher sein, um zu prognostizieren: Dieses Straßenbauprojekt, das uns jahrzehntelang beschäftigen und weiterreichende Folgen haben wird, dürfte für die folgenden Generationen als „Schandfleck“ in die Stadt- und Landesgeschichte eingehen. Das Wissen darum lassen sogar offizielle Organe bereits jetzt durchblicken, indem sie den nächsten Bauabschnitt ebendieser Straße im Westen der Stadt ankündigen mit der Erkenntnis, dass „die Fehler des Südschnellweges nicht wiederholt werden sollen“. Eigene Fehler werden vor ihrem unwiderruflichen Begehen von den Urhebern erkannt und dennoch begangen? Diese Haltung erinnert uns dann doch an einige ganz finstere Episoden der deutschen Geschichte.

Viele „Grüne“ tun gegenüber den Bürgerinitiativen und aktivistischen Gruppierungen mittlerweile so, als seien sie ebenfalls gegen das Straßenbauprojekt, halten in den entscheidenden Gremien jedoch tunlichst den Mund, um es sich mit dem großen Bruder SPD nicht zu verscherzen. Wir lernen nicht erst an dieser Stelle: Demokratie heißt auch, sich dem „Stärkeren“ solange unterzuordnen. Wenn es sein muss auch so lange, bis von der eigenen Überzeugung – im Falle der „Grünen“ sogar Existenzberechtigung – effektiv nichts mehr übrig ist. Die einzige „Opposition“ in dieser Sitzung, in der binnen drei Minuten das Todesurteil über tausende von Bäumen bestätigt und ein mehrjähriges urbanes Verkehrschaos abgesegnet wird, ist ein CDU-ler mit seiner alibiartig gestellten Frage nach zwei Bibern, die im Landschaftsschutzgebiet entdeckt wurden. Zu den anderen ungefähr zehn geschützten Tierarten fällt kein Wort, und die Menschen, die geschädigt werden, haben scheinbar überhaupt keine Rechte. Auch eigene dokumentarische Aufzeichnungen von dieser Farce dürfen nicht erstellt werden, obwohl man bereits am Eingang darauf hingewiesen wird, dass in diesem Raum gefilmt wird. Wer filmt hier wen und wofür?

Ansonsten gilt: Wer als gemeiner Bürger das Redeverbot missachtet, wird des Saales verwiesen – egal, wie hoch oder gering der Informations- und Wahrheitsgehalt der bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten bürokratischen Worthülsen des Versammlungsführers, dem man als „Bittsteller“ zu widersprechen versucht, auch sein mag. Man darf hier Beobachter sein – nicht Betroffener und schon gar nicht Mitgestaltender. Viel deutlicher kann uns kaum vor Augen geführt werden, mit wieviel Ohnmacht das Grundgesetz uns Bürger ausgestattet hat.

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