Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 4.33

Das Logbuch geht weiter: Die andere Seite

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Alle machen jetzt Demos. Gründe dafür gibt es genug, leider. Warum also sollte unser Fußballverein keine machen? So wundert es mich nicht, dass es auf dem Opernplatz nur so von schwarz-weiß-grünen Fahnen wimmelt – ist dies doch nicht nur die Tricolore von Borussia Mönchengladbach, sondern auch die von Hannover 96. Und weil sich der Club beziehungsweise vor allem seine Fans „Die Roten“ nennen, überrascht es auch nicht, dass ein kleines Dreieck in ebendieser Farbe eingearbeitet ist. Aber in jede Fahne? Das macht mich stutzig und ich beschließe, mir das Spektakel aus der Nähe anzuschauen. Dann erst merke ich, dass es sich bei dem Aufmarsch um eine palästinensische Kundgebung handelt.

Auf „unseren“ Demos gibt es seit einiger Zeit ein „Awareness“-Team, das weder sexistische oder rassistische Übergriffigkeiten, noch diskriminierende Sprüche zulässt. Und natürlich wird peinlich genau darauf geachtet, dass polizeiliche Anordnungen befolgt werden. Letzteres ist bei den Palästinensern genauso, der Rest der Benimmregeln auf ihrer Demo dagegen klingt für meine Ohren etwas abenteuerlich: Es dürfen keine antisemitischen oder antiisrealischen Äußerungen kommen, es darf nicht mit der Hamas sympathisiert werden, bestimmte arabische Verse (z. B. „From the river to the sea ...“) dürfen nicht skandiert werden und – besonders interessant – „hier“ dürfen keine Symbole oder Fahnen verbrannt werden. Legt das den Schluss nahe, dass derartige Dinge an anderer Stelle für die Anwesenden völlig legitim sind? Übrigens höre ich auch in der arabischen Version der Einführungsrede permanent das Wort „verboten“. Legt das den Schluss nahe, dass es „verboten“ im Arabischen nicht gibt?

Die Versammlungsleiterin trägt eine schwarze OP-Maske und neben ihr steht eine junge Dame, die ganz klassisch verhüllt ist. Ob das – zumindest äußerlich eine Parallele zu unseren Umweltaktivisten – der Wahrung der Anonymität dient, erschließt sich mir nicht, zumal alle anderen Besucherinnen unverhüllt sind. Dann tritt eine Art „Prediger“ vor und es wird sehr emotional. Immer wieder kommt das anscheinend unvermeidliche „Allahu Akbar“ und die ganz Veranstaltung bekommt das Flair eines Gottesdienstes. Äußerst unschöne Dinge über den Krieg sind auf dieser Demo zu hören, von Genozid ist die Rede, von unbekannten Kampfstoffen und der völligen Isolation des Gazastreifens mittels Kappung des Internets.

Auch die „offiziellen“ Nachrichten künden nichts Gutes. Wurde zunächst tagelang die Zahl der beim ersten Hamas-Raketenangriff getöteten Israelis kolportiert und drehte sich alles um die verschleppten Geiseln, meldet sich nun die UN mahnend zu Wort – alleine die Zahl der getöteten Kinder im Gazastreifen übersteigt offensichtlich die israelischen Opfer um mehr als das doppelte. Nicht ganz nebenbei hört man in öffentlich-rechtlichen Diskussionsrunden: Auch die UN soll antisemitisch sein. Die Hamas wiederum scheint untrennbar mit den Palästinensern verbunden zu sein – fast wie ein Krebsgeschwür, das seinen eigenen Wirt umbringt. Denn dass Israel jetzt „tabula rasa“ machen will, daran besteht wenig Zweifel. Die baulichen Einrichtungen, Operationsbasen und Schaltzentralen der Hamas – so erfährt man – sind tief in die besiedelten Gebiete eingeflochten, ja regelreicht eingegraben. Die bereits jetzt auf Jahre hinaus völlig zerstörten Orte geben ein schauriges Bild ab. Ein Bild, das der Moderator mit dem Hinweis versieht, dass in dem Gebäudekrater, den wir gerade auf dem Bildschirm sehen, ein Hamasführer getötet wurde. Wie viele Kinderleben wurden alleine bei den Luftangriffen für dieses eine Hamas-Leben geopfert?

Sollte es im russisch-ukrainische Krieg noch vergleichsweise leicht sein, sich für eine Seite zu entscheiden, dürfte es in diesem Krieg etwas schwerer werden. Denn auch wenn Israel per se unser „Staatsfreund Nr. 1“ und die Aggression der Hamas der Auslöser für diesen Feldzug – der eher noch „Städtezug“ genannt werden könnte – ist, so sollte eine Gegenoffensive, die die Zivilbevölkerung beileibe nicht verschont, uns ebenfalls zu denken geben.

Es gäbe noch viele Fragen und Unwägbarkeiten aufzulösen, doch dieser schier endlos schwelende und immer wieder aufflammende Konflikt wird mit herkömmlichen Mitteln vermutlich nicht beizulegen sein. Als Kolumnist bleibe ich nicht nur deshalb lieber bei unseren hausgemachten Absonderlichkeiten. Da ist zum Beispiel diese gerade in Mode kommende Politiker-Meinung, dass wir uns mit den Flüchtlingen den Antisemitismus „selber ins Land geholt“ haben. Hoppla – bisher dachte ich, dass wir niemanden geholt haben, sondern dass die Flüchtlinge ganz von alleine gekommen sind. Karl Lagerfeld – Gott hab ihn selig – hat diese Problematik des „einreisenden“ Antisemitismus schon vor Jahren angesprochen und sich damit wenig Freunde gemacht. Wieso kommen die hiesigen Politiker eigentlich immer erst dann auf den Trichter, wenn längst alles zu spät ist – und warum interpretieren sie zu allem Überfluss noch so vieles falsch?

By the way: Wird eigentlich irgendwo noch differenziert zwischen „Antisemitismus“ und „Antiisraelismus“? Warten wir ab, wie das erst wird, wenn Frau Wagenknecht mit ihrer neuen Partei bei diesem Thema mitmischt...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden